Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
möglichst heilsam verläuft – das ist mir ein großes Glück.
Lektüre
Und dann die Lektüre. Theoretische Texte müssen an meine Erfahrungen anknüpfen, sonst mag ich sie nicht lesen. Also gefallen mir meist Arbeiten der KollegInnen, die sich mit dissoziativen Störungen und Komplextrauma nachdenklich und kreativ, auch wissenschaftlich, beschäftigen, und das sind glücklicherweise immer mehr aus immer mehr Arbeitsfeldern. Auch kulturhistorische, neurowissenschaftliche und philosophische, soziologische und politologische sowie poetische Texte und Romane interessieren mich, solange sie sich bemühen, größere Zusammenhänge zu erklären, ohne eine allein selig machende Theorie zu verkünden, was leider allzu oft der Fall ist. Ich mag Vorläufiges, Vorsichtiges, Tastendes mehr als Fertiges und Vorgegebenes. Ein Vielleicht mehr als ein „So ist es und nicht anders“. Vielleicht spiegelt sich das in den Experten-Gesprächen, die Sie in diesem Buch finden.
Und früher? Psychoanalytische Texte von Sigmund und Anna Freud, von Jung, Adler, Ferenczy, Federn und vielen anderen haben mich schon als Schülerin fasziniert, aber häufig wegen ihrer Strenge und ihrer oft kalten, unbeteiligt wirkenden Art der Analyse sowie der Insider-Fachsprache befremdet (Ausnahmen: einige der Arbeiten zur Objektbeziehungstheorie und Bindungstheorie). Jahrzehnte später und bis heute habe ich leider immer wieder erlebt, dass KollegInnen, die PsychoanalytikerInnen werden wollten, unter hohen Anpassungsdruck gerieten, nur noch in der hermetisch verschlossenen Welt „ihres“ analytischen Instituts und dessen Weltsicht zu kreisen; eine Welt, in der allzu oft keine Fragen offen blieben, aber LehranalytikerInnen übergroße Macht über die jungen KollegInnen auszuüben schienen: Die Patriarchen (oder Patriarchinnen) konnten jederzeit beschließen, die KandidatIn sei „noch nicht reif“ und müsse noch weitere Jahre lernen (weitere zigtausend Euro für ihre Ausbildung und ihre Lehranalyse bezahlen ...). So manches Mal kamen mir die nicht „ausgestiegenen“, sondern dann irgendwann „fertig analysierten“ und dann selbst als AnalytikerIn praktizierenden KollegInnen eher wie Mitglieder einer Sekte vor. Und die Texte mit ihrer oft apodiktischen Art, selbstverständlich könne man nur Psychotherapie „richtig“ machen, wenn man psychoanalytisch denke und vorgehe, waren und sind meist nicht nach meinem Geschmack. Dabei finde ich sehr viel Kluges an tiefenpsychologischen Denkweisen: Dass sich das in Beziehung Erlittene in der therapeutischen Beziehung spiegelt zum Beispiel, und dass es wichtig ist für die TherapeutIn, eigene Empfindungen und Erinnerungen zu trennen von dem, was die KlientIn in ihr auslöst und vielleicht auf sie projiziert hat. Diese und andere Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamiken machen Psychotherapie zu einem aufregenden und ausgesprochen herausfordernden Abenteuer.
An der Universität hatte ich mich – das ging damals noch: eine inneruniversitäre Psychotherapieausbildung! – für den Schwerpunkt Verhaltenstherapie entschieden. Doch auch wenn sich die KollegInnen an der Uni Münster bemühten, den Blick zu öffnen – in Richtung Gesprächspsychotherapie, Familientherapie, Gestalt etc. –, so kam mir doch der verhaltenstherapeutische Ansatz selbst seltsam mechanistisch vor: Störungen werden gelernt und können verlernt werden. Dazu helfen übende Verfahren. Punkt. Schon meine ersten eigenen Versuche als Psychotherapeutin (1976 mit einer Gruppe tablettenabhängiger Frauen, gemeinsam mit der Sozialarbeiterin Heidrun Zöllner) machten mir klar: Es gab noch so unendlich viel für mich dazuzulernen, um KlientInnen wirklich helfen zu können! „Meine“ Klientinnen damals waren, wenn ich es von heute aus betrachte, alle mit frühen, teils schweren Traumatisierungserfahrungen belastet. Unter anderem berichteten sie über sexualisierte Gewalterfahrung als Kind und Jugendliche, was mich damals erst einmal fassungslos und hilflos machte – zum einen hatte ich Derartiges nicht selbst erlebt, zum anderen davon im Studium so gut wie nichts gehört! Ein reiner: „Das ist gelernt – das kann verlernt werden“-Weg war angesichts der Tatsache, dass die Frauen Tabletten einnahmen, um ihre sie bedrängenden Schreckenserinnerungen in Schach zu halten, obsolet. Einen anderen kannte ich noch nicht, aber ich bin den Frauen bis heute unendlich dankbar: Noch in demselben Jahr machte ich mich auf die Reise in die USA, um zu
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