Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
lernen, wie unter Gewalterfahrungen leidenden Kindern und Erwachsenen Unterstützung gegeben werden könnte.
Die Lektüre von verhaltenstherapeutischer Literatur verursacht mir bis heute lange Zähne, ich finde sie mühsam und oft langweilig und es fehlt mir etwas ganz Entscheidendes. Etwas, das ich leider auch in der „klassischen“ psychoanalytischen Literatur nicht fand: Die Beschreibung von Psychotherapie als ein Beziehungsgeschehen und Hinweise darauf, wie dieses Abenteuer, sich einzulassen auf einen anderen Menschen, gut zu bewerkstelligen wäre. Erst meine Beschäftigung mit humanistischen Therapieverfahren, mit der modernen Hypnotherapie und den bindungs-, körper- und system-orientierten Therapien sowie mit tiefenpsychologischen Ansätzen von analytischen „QuerdenkerInnen“ wie Luise Reddemann oder Harvey Schwartz ließen mich etwas mehr von dem Abenteuer spüren, das Psychotherapie bedeuten kann.
Virginia Axline: Beispiel für eine humanistische und achtsame Psychotherapie
Die Faszination für psychotherapeutisches Arbeiten habe ich also weniger aus psychoanalytischer oder verhaltenstherapeutischer Lektüre. Sondern zum Beispiel aus Büchern wie „Dibs“ von Virginia Axline, über die vorsichtige, Raum für Entwicklung lassende, als „nondirektive Spieltherapie“ in die Literatur eingegangene Psychotherapie mit einem autistisch wirkenden Jungen, das ich in den 1970er-Jahren las. Erst später fand ich heraus, dass Axline bereits 1947 in einem Buch, das ich erst Ende der 1980er-Jahre in die Hände bekam (Axline 1989), die Grundsätze humanistischer (Kinder-)Therapie formuliert hatte (Übersetzung MH):
Die TherapeutIn baut eine warme, freundliche Beziehung zum Kind auf und ermöglicht so bald wie möglich einen guten Rapport (Arbeitsbeziehung) zwischen dem Kind und sich.
Die TherapeutIn akzeptiert das Kind genau so, wie es ist.
Die TherapeutIn vermittelt dem Kind, dass es die Erlaubnis hat, alle seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen.
Die TherapeutIn nimmt aufmerksam die Empfindungen wahr, die das Kind ausdrückt, und spiegelt sie dem Kind, damit es sie und sein eigenes Verhalten verstehen kann.
Die TherapeutIn behält den ganzen Prozess über einen tiefen Respekt für die Fähigkeiten eines Kindes, Probleme zu lösen, wenn es die Gelegenheit dazu bekommt. Sie ist verantwortlich dafür, dem Kind Wahlmöglichkeiten aufzuzeigen und Veränderungen seines Verhaltens zu ermutigen.
Die TherapeutIn versucht nicht, innerhalb der Therapie die Handungen oder Wahlmöglichkeiten des Kindes zu dominieren; das Kind bestimmt den Prozess, die TherapeutIn folgt ihm.
Die TherapeutIn versucht nicht, den Therapieprozess hastig zu beschleunigen; Therapie ist ein sich allmählich entfaltender Prozess, und die TherapeutIn erkennt ihn auch als solchen an.
Die TherapeutIn setzt nur die Grenzen, die notwendig sind, um den Therapieprozess in der realen Welt zu verankern und das Kind auf seine Verantwortung innerhalb der therapeutischen und seiner anderen Beziehung/en hinzuweisen.
1947! Der Zweite Weltkrieg war gerade eben vorbei, als Virginia Axline diese Grundsätze einer humanistischen und achtsamen Psychotherapie mit Kindern aufschrieb. Und in dem 1964 erschienenen Fallbericht „Dibs“ schreibt sie: „Das Kind muss sich zuerst selbst verstehen lernen und kann dann Selbstachtung erwerben und ein Gefühl für Würde erhalten. Erst dann kann es die Persönlichkeiten, Rechte und Verschiedenheiten anderer Menschen respektieren“ (1972, S. 65). Ich wünschte mir heute sehr oft ein allgemeines gesellschaftliches Verständnis von Psychotherapie, das so aussieht.
Noch mehr Lektüre
Weiter: Gelernt habe ich aus Büchern wie „Sheila“, „Bo und die anderen“ oder, besonders berührend, „Kevin – Der Junge, der nicht sprechen wollte“ von Torey Hayden, einer damals jungen Psychologin, die sich auf seelisch beeinträchtigte und traumatisierte Kinder intuitiv und behutsam einfühlend einließ. Im Klappentext zu „Kevin“ hieß es 1983: „Ihre Methoden sind ungewöhnlich und mehr vom Herzen und gesunden Menschenverstand diktiert als von Lehrbüchern.“ Kevin zum Beispiel war ein 15-jähriger Junge, der nicht mehr sprechen konnte, nachdem er, vom Stiefvater gequält und misshandelt, auch noch mit ansehen musste, wie dieser Kevins Schwester ermordete. Die Art Torey Haydens, sich einzufühlen in das Gegenüber, ihre kreativen Interventionen immer abhängig zu machen von dem, was jeweils möglich war, sehr lange
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