Der Feind im Spiegel
Paß, aber hier trug er ein offenstehendes Hemd und zeigte ein breiteres Lächeln. Die Brille war dieselbe. Er hieß Peter Madsen. So stand es auch auf seiner Krankenversicherungskarte, in seinem Führerschein und auf der Visa-Karte mit dazugehörigem PIN-Kode. Dabei lagen dänische Kronen und Euro in gebrauchten Scheinen. Sie hatten an alles gedacht. Zweifellos gab es auch ein Konto zu der Karte. Sie waren Profis.
Die folgenden zwei Tage riß er sich zusammen und beschattete Fatima. Er nahm die S-Bahn nach Ishøj. Sie wohnte in Vejlegården, nicht weit vom S-Bahnhof. Die Wohnanlage befand sich in einem Viertel mit sozialem Wohnungsbau. Am ersten Tag war er wie ein Geschäftsmann ausgestattet: Jackett, Schlips, Computertasche. In der Nähe des Vejlegården und des Ishøj-Centers mit seinen unzähligen Geschäften lag ein größeres Hotel, in dem Männer wie er ein und aus gingen.
Am nächsten Tag sah er wie ein jüngerer Däne aus, er trug die Hose, die er sich gerade erst gekauft hatte, bei der man die Beine über dem Knie per Reißverschluß abtrennen konnte, ein gewöhnliches T-Shirt und seine Leinentasche. Das Wetter war wechselhaft, aber es wurde wärmer. Und die Wetterfrösche in den dänischen Fernsehnachrichten hatten versprochen, daß der Sommer nun endlich komme. Zumindest für ein paar Tage. Er ging davon aus, daß sie einen festen Rhythmus hatte. Bei Müttern mit kleinen Kindern war das in der Regel so. Denn in ihrer Wohnung im Vejlegården wollte er sie nur im äußersten Notfall aufsuchen.
Der Vejlegården war eine flache Betonanlage am Ishøj-Center. Am nächsten Tag stand Vuk wieder auf der Fußgängerbrücke, die über die Stenbjerggårds Allé führte. Er begriff nicht, wie man eine so stinklangweilige vierspurige Straße als Allee bezeichnen konnte. Die Sonne schien, aber sie milderte keineswegs die Trostlosigkeit des Gebäudekomplexes, auf den er hinuntersah. Der Beton war streifig und trist. In einem leichten Bogen erstreckten sich die Wohnblöcke, so weit das Auge reichte. Sich in dieser Gegend herumzutreiben fiel nicht weiter auf. Das gehörte hier zur alltäglichen Beschäftigung. Es war ein Unterschichten-Dänemark ohne jene Dynamik, die so unlöslich mit den multikulturellen USA verbunden war. Mit jedem Tag, den er in seinem früheren Land zubrachte, vermißte er Amerika mehr. Trotz des scheinbar ruhigen Lebens spürte er eine unterschwellige Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Nur die vielen Kinder strahlten Lebensfreude aus. Sie spielten überall und plapperten in allen möglichen Sprachen, auch auf dänisch. Niemand nahm Notiz von ihm. Jung zu sein und keine andere Beschäftigung zu haben als herumzuschlendern, war in diesem Teil von Ishøj normal; nicht einmal die Sicherheitsleute am Haupteingang des Einkaufscenters machten ihn nervös.
Gegen halb elf kam Fatima mit ihrer Freundin. Sie hatte zugenommen, aber das hübsche ovale Gesicht mit den langen Wimpern und dem kleinen weichen Mund hatte er sofort erkannt. Sie trug ein Kopftuch, allerdings war es nicht sehr fundamentalistisch, sondern eher locker gebunden, ihre ebenmäßige Stirn war zu sehen, und die Locken lugten unter dem Tuch hervor. Ihre Freundin war mindestens zehn Jahre jünger. Sie trug das Kopftuch auf dieselbe Weise wie Fatima. Sie war groß und schlank. Sie trugen beide lange Hosen und darüber einen Rock, aber Fatimas Freundin hatte nackte Arme, Fatima nicht. Fatima schob einen Kinderwagen mit einem dreijährigen Kind. Zwei weitere Kinder folgten ihr: ein vielleicht neunjähriger Junge mit langen Gliedmaßen und großen braunen Augen und eine Siebenjährige mit Zöpfen. Sie war das Ebenbild ihrer Mutter, so hatte Fatima selber als Kind und später als Jugendliche ausgesehen. Sie kauften bei Bilka ein und tranken auf dem kleinen Platz einen Kaffee, während die Kinder auf dem Spielplatz waren. Sie kannten eine Menge Leute. Männer oder Frauen blieben an ihrem Tisch stehen und wechselten ein paar Worte mit ihnen. Sie saßen etwa eine Stunde dort, dann gingen sie über die Fußgängerbrücke, um in ihre Wohnungen im Vejlegården zurückzukehren. Nachmittags würde Fatima sicher noch einmal Spazierengehen, und Vuk hatte sich genau zurechtgelegt, wie er ihr zufällig über den Weg laufen konnte. Fatima war noch immer eine reizende Person, und wenn sie mit ihrer Freundin schwatzte, waren ihre Bewegungen und ihre Augen genauso lebhaft wie damals, als er fünfzehn war – wie hatte ihn das verliebt gemacht! Kurz bevor
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