Der Feind im Spiegel
morgen, Janos«, sagte sie und schob den Buggy davon.
Vuk war gespannt, ob sie wirklich kämen oder ob sie ihn nur abwimmeln wollten. Das Risiko, das er einging, war verdammt hoch. Jetzt verging noch mal ein ganzer Tag. Es gab ihnen Zeit, über Janos zu reden und sich vielleicht an Ereignisse zu erinnern, die besser vergessen sein sollten. Aber er vermutete, daß Fatima die überraschende Begegnung ihrem Mann gegenüber nicht erwähnen würde. Weder sie noch die Freundin waren im geringsten darüber erstaunt gewesen, daß er sich auf freiem Fuß befand. Daß er offenbar ein normales Leben führte. Er mußte darauf hoffen, daß sie ganz in ihrer eigenen Welt lebten und weder dänisches Fernsehen sahen noch dänische Zeitungen lasen.
Er kam sehr früh am Magasin an. Er hatte sich den Dolch am Bein befestigt. Zunächst schlenderte er durch die Straßen rund um das Kaufhaus. Dann ging er hinein, nahm die Rolltreppe und stöberte in den diversen Abteilungen herum wie alle anderen Kunden auch, die von dem vorgezogenen Sommerschlußverkauf herbeigelockt worden waren. Alles atmete Normalität. Er ging wieder hinaus und drehte noch eine Runde in den Straßen um das Kaufhaus. Er sah Fatima und Nilüfer auf das Kaufhaus zugehen. Sie waren allein. Die Freundin trug kein Kopftuch. Er beobachtete, wie sie hineingingen. Er bemerkte nichts Verdächtiges. Gefühle und Empfindungen waren dabei ebenso wichtig wie physische Zeichen. Er vertraute seinen Instinkten. Sein höchst sensibler Verteidigungsapparat, der ihn so viele Jahre lang am Leben erhalten hatte, registrierte keine Unruhe. Weder äußere noch innere Warnsignale. Beim ersten Hauch von Gefahr hätte er die Operation abgeblasen, aber er witterte nichts. Nirgends lagen Leoparden auf der Lauer und harrten der wehrlosen Beute.
Vuk betrat das Magasin und nahm die Rolltreppe zur Cafeteria. Die beiden Freundinnen hatten bereits Platz genommen. Sie steckten die Köpfe zusammen und lachten. Er holte sich eine Tasse Kaffee und ging zu ihnen, und sie lächelten und begrüßten ihn. Er besorgte Kaffee und Kuchen für sie, und dann sprachen sie von den alten Zeiten und längst vergessenen Kameraden und von den Lehrern, die doof gewesen waren, und den Lehrern, die sie gemocht hatten, und alles wirkte völlig normal, und sie hatten genug zu bereden, denn es nahm ja ein wenig Zeit in Anspruch, all die Namen und Gesichter durchzugehen, an die man sich erinnerte, und dann zu der Erkenntnis zu gelangen, daß man praktisch keinen mehr so richtig kannte. Die beiden Frauen waren gelöster als in Ishøj, und Fatima hatte ihr Kopftuch zurückgeschoben und ihren Hals entblößt. Es war warm heute, aber sie trug wieder eine langärmlige Bluse, während Nilüfer ein blaues T-Shirt mit kurzen Ärmeln anhatte. Beide trugen lange Hosen. Fatima auch noch einen Rock. Sie waren heute auch stärker geschminkt. Fatima war wirklich dicker als früher, aber sie hatte noch immer ihr Jungmädchengesicht, und ihre Augen waren sehr lebhaft.
»Worüber habt ihr so gelacht, als ich kam?« fragte Vuk.
Fatima sah ihre Freundin an. Der Blick sagte: Halt bloß den Mund! Aber Nilüfer lachte wieder. Sie hatte regelmäßige weiße Zähne, ein längliches Gesicht und eine leicht schiefe Nase. Sie war nicht älter als zwanzig. Oder vielleicht doch ein paar Jahre. Es war schwer zu schätzen.
Sie sagte: »Wir haben über dich geredet.«
»Und was habt ihr über mich gesagt?«
»Das sagt man nicht.«
Sie lachten wieder. Alberne Gänse, dachte Vuk.
»Wie war noch mal dein Name?« fragte er.
»Nilüfer. Das bedeutet Seerose auf türkisch.«
»Sehr hübsch.«
»Ja, nicht? Es paßt zu mir.«
Dann lachten sie wieder. Wie zwei kichernde Schulmädchen. Als Fatima wieder zu Atem kam, fragte sie: »Bist du verheiratet, Janos?«
»Ich war. Ich bin geschieden. Es hat nicht gehalten.«
»Ach, wie schade.«
Nilüfer lehnte sich über den Tisch.
»Kanaken lassen sich nicht scheiden.«
»Was ist das eigentlich für eine Geschichte mit diesen Kanaken?« fragte Vuk.
Sie sahen sich wieder an. Erneutes Gekicher. Sie mußten wirklich dicke Freundinnen sein, daß sie bei jeder Kleinigkeit in Lachen ausbrachen.
Nilüfer antwortete: »Das weißt du doch. Wenn ein Däne uns Kanake nennt, ist er Rassist. Wenn wir uns so nennen, ist es in Ordnung. Aber du siehst ja auch nicht aus wie ein Kanake. Du siehst aus wie ein Däne und sprichst auch so.«
»Ich war Ausländer. Fatima und ich waren die einzigen Ausländer, jedenfalls am
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