Der Feind im Spiegel
Eigentlich war ihre Aufgabe erledigt, Toftlund rechnete mit der baldigen Auflösung seiner kleinen Kanakenbande. Er wurde das Gefühl nicht los, daß irgendwelche strukturellen Änderungen im PND auf sie zukamen. Es machte sich immer hervorragend, wenn ein Chef in seinem Lebenslauf schreiben konnte, daß die Firma unter seiner Ägide reorganisiert worden war, auch wenn das selten einen positiven Effekt hatte. Meistens stiftete es nichts als Verwirrung, und im Laufe der Zeit kehrten die meisten Dinge in den alten Zustand zurück. Plötzlich ging ihm durch den Kopf, daß sich Vuldom diesmal womöglich nicht mehr würde halten können. Wenn sie gegangen wurde, was würde das für ihn bedeuten? Schwer zu sagen. Vuldom ließ ihm Leine. Eine sehr lange Leine. Nicht einmal die italienische Katastrophe hatte sie dazu benutzt, ihn zu entfernen oder seine kleine, gut funktionierende Gruppe zu zerschlagen. Sie hatte es sogar ins Positive gewendet und gesagt, Toftlund habe, wenn auch unfreiwillig und nicht sehr elegant, einen neuen Kanal der Zusammenarbeit eröffnet. Der sich im übrigen auch schon ausgezahlt habe.
Als er in Vuldoms leicht verrauchtes Büro trat, war ihr jedenfalls nichts anzumerken. Sie saß an ihrem Schreibtisch, hatte die Lesebrille auf der Nasenspitze und überflog seinen vorläufigen Bericht, den er Freitag früh fertiggestellt hatte. Im übrigen war ihr Schreibtisch wie üblich aufgeräumt, und die geheimen Unterlagen lagen sicher verwahrt in Vuldoms Safe. Die Sonne schien durch die Fenster, und er hörte das schwache Rauschen des Verkehrs, das jetzt in der Ferienzeit noch etwas gedämpfter klang als sonst.
»Setz dich, Per«, sagte sie und las weiter. Er betrachtete sie heimlich. Sie schien ziemlich gestreßt, wie momentan die meisten anderen in entsprechenden Positionen in der westlichen Welt auch. Sie sah nicht mehr jünger aus, als sie war, obgleich sie immer noch schlank war und sich geschmeidig bewegte, aber die an sich ganz charmanten Falten in ihrem charaktervollen Gesicht waren in den letzten Monaten tiefer geworden, und der Aschenbecher verriet, daß sich ihr Zigarettenkonsum auch nicht verringert hatte. Toftlund wußte, daß nicht nur die Arbeit sie anstrengte. Es war das tägliche Gerangel mit dem Reichspolizeichef, den Ministerien und den Medien, die ihr mit immer neuen Erwartungen und Forderungen zusetzten, sie sollte Terrorzellen in Dänemark ausheben oder zumindest Verlautbarungen veröffentlichen, wie sich der PND eigentlich die Verhinderung islamistischen Terrors auf dänischem Boden vorstellte.
Jette Vuldom legte den Bericht und ihre Lesebrille auf den Tisch, zündete sich eine Zigarette an und lobte ihn: »Glänzend, Per. Ihr habt gute Arbeit geleistet.«
»Dank der Mannschaft. Und besonders dank Bjerregaard und Aischa. Es ist ihr Verdienst.«
»Ausgerechnet die beiden?«
»Ja. Sie arbeiten prima zusammen. JB ist in mancherlei Hinsicht ein alter Esel, aber er kann zuhören und ist sich nie zu fein, noch was dazuzulernen. Er sieht die Muslime im Land jetzt nicht mehr als Gruppe an, sondern als Menschen. Echte Kollegen werden sie wahrscheinlich nie, aber sie haben den Dreh gefunden, wie sie zusammen arbeiten können. JB hat sich wieder begeistern lassen. Er sagt, es erinnert ihn an den kalten Krieg, als wir die marxistischen Splittergruppen überwacht haben. Damals hatten sie alle eine große Klappe, was Gewalt als politische Waffe anging und solche Sachen. Dabei waren sie eine verschwindend kleine Minderheit innerhalb des linken Milieus. Mit den Islamisten unter den dänischen Muslime ist es ganz ähnlich. Eine Minderheit! Die meisten leben ganz normal. Ein Teil lebt am Rande der Gesellschaft, aber mit Terror haben sie nichts zu tun. Viele sind eigentlich das, was JB anständige Bürger nennen würde, ein paar Vorurteile hat er schon abgelegt. Es hat ganz offensichtlich etwas mit Kultur und Tradition zu tun, daß es so viele Schwierigkeiten gibt. Aischa hat ihm einiges über Ehre und Schande beigebracht, über Traditionen und das Fremdsein in Dänemark. Nach und nach haben sie sich zusammengerauft und konnten so gemeinsam ihre Arbeit erledigen.«
»Gut«, sagte Vuldom. »Und wie sieht es nun also mit unserer Ecke der Wirklichkeit aus?«
»Was meinst du?«
Vuldom setzte sich die Lesebrille wieder auf und tat, als läse sie seinen Bericht.
»Das ist ja alles sehr schön hier. Der geeignete Bericht für unsere politischen Bonzen, aber nehmen wir uns jetzt mal das Operationelle und
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