Der Feind im Spiegel
er nicht ausgeliefert werden würde. Mit seinen Informationen hatte er ihnen zu erkennen gegeben, daß er noch mehr wußte. Und sie wußten, daß er dieses Wissen nicht auf einmal preisgeben würde, und hofften, daß sie es im Kampf gegen al-Qaida einsetzen konnten. Jede Information, die ihnen half, Rache zu nehmen, wollten sie bezahlen. Die Sicht der Amerikaner war biblisch. Rache erschien ihnen natürlich. Konnte Gott das rächende Schwert nicht führen, mußten sie es eben selbst tun. Und half man ihnen dabei, waren sie willig, Dankbarkeit zu zeigen.
Vuk und sein Aufpasser saßen auf den vordersten Plätzen des gecharterten Privatjets, der sie, davon war er mehr und mehr überzeugt, nach Hawaii flog. Hinter ihnen saßen noch andere Fluggäste, aber er bekam sie nicht zu Gesicht. Er versuchte, die Reste der Erinnerungen wachzurufen, die unlösbar mit Bosnien und Serbien und dem Krieg in den neunziger Jahren verbunden waren. Es war nicht leicht. Er hatte viel Energie darauf verwandt, diese Jahre zu verdrängen, aber genau von dieser Zeit hing seine Zukunft ab, sie entschied, ob er mit Emma und den Kindern zusammenleben oder im Gefängnis landen würde. Irgendwann würde er Zugang zu einem Rechner und zum Internet benötigen. Es gab da noch sein Dossier zu der Aktion, die seine Arbeitgeber, die zu Milosevics Geheimpolizei gehörten, »Operation Grüne Flagge« getauft hatten. Obwohl er damals nur am Rande dabei war, wußte er doch einiges darüber. Schon damals und trotz seiner Jugend hatte er geahnt, daß dieses Wissen während jener gnadenlosen Auseinandersetzung, in der sich Serbien damals befand, lebensentscheidend sein konnte. Als der Feind nicht nur aus bosnischen und kroatischen Milizen, sondern auch aus Verrätern und Banditen im Herzen Serbiens bestand. Oder aus den autonomen Milizeinheiten, die mit oder ohne Segen des Regimes in einem Bürgerkrieg operierten, dessen Brutalität ihn schon nach kurzer Zeit nicht mehr erstaunte. Und sein Gewissen nicht mehr belastete. Jedenfalls am Tage. Die nächtlichen Alpträume konnte er nicht steuern. An den Tagen zwischen den Einsätzen hatte er sich die Dämonen mit Hilfe der Flasche vom Leibe halten können.
Es war sein alter Kommandant gewesen, der sich die »Operation Grüne Flagge« ausgedacht hatte. Auch deshalb war Vuk dazu einberufen worden. Die Idee stammte von den französischen Fremdenlegionären, die den Tod eines ihrer Kameraden gerächt hatten, indem sie sich hinter die feindlichen Linien schlichen, wo sie zehn serbischen Milizionären den Hals durchschnitten. Das widersprach dem UN-Mandat, aber den Legionären war das scheißegal. Ihre Botschaft lautete: Wenn ihr einen von uns tötet, töten wir zehn von euch. Das hatte gewirkt. Der Befehl von Arkan und den andern Milizführern lautete daraufhin: Haltet euch von den französischen UN-Soldaten fern.
Vuk schaute über das Meer. Er erinnerte sich an die Worte seines Kommandanten mit den nikotinfleckigen Zähnen und der rostigen Stimme: »Was die französischen Ärsche können, können wir auch, Vuk. Wir schicken Leute hinter die Linien und schneiden den sogenannten Freiwilligen die Hälse durch. Sie sind Fanatiker und werden immer mehr. Sie führen einen heiligen Krieg. Wenn wir die Wichtigsten und Gefährlichsten von ihnen ausschalten, dann ziehen die übrigen vielleicht ab, und in den arabischen Ländern wird sich die Einsicht verbreiten, daß Bosnien nicht Afghanistan oder Tschetschenien ist. Daß wir Serben uns von Allahs Kriegern nicht auf der Nase herumtanzen lassen.«
In Wirklichkeit spiegelte die »Operation Grüne Flagge« die wachsende Verzweiflung des Regimes wider. Das Kriegsglück war nicht mehr auf seiner Seite. Die Serben standen unter Druck, besonders durch die internationale Gemeinschaft. Aber an den vielen unklar verlaufenden Fronten der Schlachtfelder wurden die serbischen Milizen vor allem von den neuen Freiwilligen unter Druck gesetzt, die nach Bosnien strömten, um ihren muslimischen Brüdern beizustehen. Dort stieß Vuk erstmals auf den Namen Osama bin Laden und sein Netzwerk al-Qaida. Es bedeutete Basis, hatte man ihm erklärt. Osama war zwar ein Sohn aus reicher saudischer Familie, hatte seinem privilegierten Leben aber den Rücken gekehrt, um die Russen in Afghanistan zu bekämpfen. Hier traf er Gleichgesinnte und rekrutierte junge Männer aus aller Welt für den Kampf gegen die Sowjetmacht. Er hatte sie nicht nur in den arabischen Ländern gefunden, sondern auch in den
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