Der Feind im Spiegel
sah ihn durchdringend an, bevor er fortfuhr: »Hast du das verstanden?«
»Das habe ich verstanden, Sir.«
»Ich hoffe. Morgen fangen wir mit den Verhören an. Willkommen auf Hawaii.«
ZWEITER TEIL
DIE ANDERE WELT
»Das muß der Wald sein, in dem nichts einen Namen hat«, sagte sie sich nachdenklich. »Was wohl aus meinem Namen wird, wenn ich hineingehe?«
Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln
11
Es war der 3. April, kurz nach Ostern, es war schon nach zehn Uhr, und Per Toftlund hatte einen verteufelten Kater. Er hatte Schmerzen nicht nur im Kopf, sondern auch im Ellbogen, weil er nähere Bekanntschaft mit dem Bürgersteig geschlossen hatte, als er aus dem Auto gestiegen war. Die ersten Anzeichen des Frühlings lagen in der Luft, aber er fühlte sich derart mitgenommen, daß er außerstande war, es zu genießen. Dabei hatte die Sonne gar nicht mehr aufgehört zu scheinen. Bald würden Bäume und Blumen zu blühen beginnen. Alles wartete nur auf den Mai, dann würde Dänemark nach einem in jeder Hinsicht kalten und miesen Winter endlich wieder zu den zivilisierten Ländern gehören.
Er saß mit einer Tasse Kaffee und den Morgenzeitungen in seinem Arbeitszimmer in der Villa in Brønshøj und versuchte, die Zeit totzuschlagen, bevor er sich zum verabredeten Rapport bei Vuldom nach Bellahøj aufmachte. Er sah ihm nicht gerade ungeduldig entgegen. Große Ergebnisse konnte er nämlich nicht präsentieren. Vuldom hastete von einem Bautermin zum anderen, weil der Polizeiliche Nachrichtendienst über kurz oder lang ein neues Hauptquartier beziehen sollte, und sie und der PND waren konstant in den Medien, und das nicht mit guten Nachrichten. Es hätte so wunderbar laufen können mit der neuen Mitte-Rechts-Regierung, die den verschiedenen Diensten fast jeden Wunsch erfüllte, Hauptsache, es nützte der Bekämpfung des Terrorismus. Doch es knirschte im Getriebe.
Mein Gott, damit konnte man leben. Aber es war weniger gut damit zu leben, daß er und Lise bis auf weiteres auseinandergezogen waren. Schöner Ausdruck! Als wäre es ihr gemeinsamer Beschluß gewesen. Sie hatte ihn rausgeschmissen. Kurz vor Ostern. Wie pathetisch! Sie sehne sich danach, allein zu sein. Sie wolle im Augenblick nicht darüber reden. Sie nahm Freya mit nach Jütland, wo sie die Ostertage mit einer Freundin verbringen wollte, die »auch mit einem kleinen Kind allein war«. Sie habe Unmengen von Überstunden abzufeiern und komme nicht vor Ende April zurück. Er habe also locker Zeit, irgendwas zum Wohnen zu finden, vielleicht zur Untermiete. Und nein, es gebe keinen anderen Mann in ihrem Leben. Und selbst wenn, dürfte ihn das ja wohl kaum interessieren, so wenig Zeit, wie er für sie gehabt habe. Sie waren sowieso nie zusammen, dann konnte doch auch jeder für sich wohnen. Eine Weile jedenfalls. Wie lange dauert eine Weile? Werden wir sehen, hatte sie mit der professionellen Frostigkeit geantwortet, die sie üblicherweise bei Interviews mit widerspenstigen Machttypen an den Tag legte.
Deshalb hatte er einen Kater. Er hatte den größten Teil der Nacht mit einem alten Freund gezecht, der als Jäger nach Afghanistan entsandt worden war. Mistkerl, glücklicher! Bei dem passierte wenigstens was. Per konnte währenddessen in seiner Bleibe unterkommen. Sie lag im Südwestbezirk, hatte zwei Zimmer und war so spartanisch eingerichtet, daß Per sich sofort heimisch fühlen würde. Was ein Mann so brauchte, war da, sonst nichts. Ein Bett, ein Tisch, vier Stühle, eine Küche, Stereoanlage, ein Fernseher mit Fernsehsessel und eine Bar. Die Wände waren weiß und ohne jeden Schmuck. Vielleicht hätte ihm die Einrichtung früher einmal gefallen, aber jetzt würde er Lise und Freya und ihr Durcheinander doch vermissen. Er konnte die Wohnung in ein paar Tagen übernehmen. Sie lag in einer Ecke von Kopenhagen, in der jene Dänen, die bei der allgemeinen Wirtschaftswunderparty keinen Zutritt hatten, in Suff und Drogen versackten. Zugedröhnte Dänen und verschleierte Frauen. Ganløses Vorstadtidylle hätte sich ebensogut auf einem ganz anderen Planeten befinden können.
Er versuchte, sich auf die Zeitung zu konzentrieren, aber er mußte ständig an Lise denken. Natürlich wußte er, was schiefgelaufen war. Aber so war er eben. Er konnte sich nicht hinstellen und lauthals verkünden, ab sofort ein anderer zu sein. Unmöglich.
Er würde noch einige Tage in Ganløse bleiben und dann in die Wohnung seines Freundes ziehen. Wenn Lise auf ihren langen Spaziergängen
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