Der Feind im Spiegel
allein oder zusammen mit Mike die Insel erkundeten – in ihrem eigenen Auto, wie andere amerikanische Frauen. Vuk brachte die Vormittage im Internet zu, wo er auf den dänischen Seiten surfte und die dänischen Zeitungen las. Weniger wegen ihres Inhalts, sondern eher, um wieder ein Gefühl und ein Verständnis für die Sprache zu entwickeln. Er surfte auf allen möglichen Homepages und versuchte sein früheres Land darin wiederzuerkennen, das verändert und unveränderlich zugleich zu sein schien und Lichtjahre entfernt. Er versuchte sich zu erinnern, wie die Dänen miteinander verkehrten und miteinander redeten. Wie sie gingen. Wie sie einander an ihren Bewegungen und ihrem Auftreten augenblicklich erkannten. Er sah sich die dänischen Fernsehnachrichten an, um herauszufinden, ob neue Ausdrücke entstanden waren. Denn die Dänen erkannten sich natürlich auch an der Sprache. Wer dänisch aussah und ohne Akzent Dänisch sprach, wurde sofort akzeptiert. Dann gehörte man dazu. Und es wurden keine weiteren Fragen gestellt.
Er sah sich die Wettervorhersagen an, der Mai ging seinem Ende entgegen, und sie näherten sich dem Monat Juni. Bald sollte er abreisen. Es war ihm ein unerträglicher Gedanke, aber die Reise war unumgänglich, wenn er sich von seiner Vergangenheit endgültig frei machen wollte. Emma war nicht mehr Emma, sondern Anna. Marker hatte ihr die neuen Taufscheine ausgehändigt, für sie und die Zwillinge, außerdem neue Sozialversicherungsnummern und einen Führerschein für Anna Ericsson, vollgültige amerikanische Staatsbürgerin mit einer Vergangenheit, die CIA und NSA in die alles umfassenden Computersysteme eingespeist hatten. Sie stand unter Schutz und damit auch die Kinder.
»Wir schließen auch eine Lebensversicherung für dich ab«, sagte Phil Marker einige Tage später. Sie saßen im Verandazimmer und tranken Eistee. Durch die halb geöffnete Tür konnte Vuk Anna und die Kinder am Strand sehen. Die Kleinen bekamen langsam eine kräftige Hawaiibräune, obwohl Anna sich bemühte, sie vor der Sonne zu schützen. Mike wuselte in seinen roten Badeshorts um sie herum. Er kompensierte die Sehnsucht nach der eigenen Familie, indem er die Zwillinge hemmungslos verhätschelte und Anna bemutterte, als wäre sie ein zartes Pflänzchen. Das war sie auch, und gleichzeitig hatte sie mehr Gewalt und Blut in ihrem Leben gesehen, als Mike jemals würde ertragen müssen.
»Du bist operativ, da gehört das zum Standard. Den Rest hast du mit Oberst Jorgensen abgesprochen, wir können uns also um die eigentliche Sache kümmern. Hörst du mir überhaupt zu?«
Phil Marker war so braungebrannt, daß die Falten in seinem Gesicht deutlich hervortraten. Er hatte ein helles kurzärmliges Hemd an und eine helle Hose. Die Pistole saß in einem Holster unter seinem Arm. Er hatte Vuk gebeten, einen Plan zu erarbeiten, und hatte diesen ganz offensichtlich mit seinen Vorgesetzten diskutiert, und nun schien es allmählich konkret zu werden. Marker zog einen Ordner aus seiner Mappe, legte Paß und Tickets auf den Tisch und sagte: »Deine Papiere sind alle da. Unglaublich, was man heutzutage alles aus Behördenhand bekommen kann, wenn man das Zauberwort ›11. September‹ sagt. Auch in puncto Zusammenarbeit hat es Wunder gewirkt. Auch zwischen den Staaten. Du kennst das ja, John. Das Geheimdienstwesen ist ein Geschäft. Wenn du nichts zu verkaufen hast, kriegst du auch nichts angeboten. So ist es eben. Wir werden sehen, was dabei herausspringt. Aber noch eins vorweg: Die Sache unterliegt strengster Geheimhaltung. Du verstößt gegen das Gesetz, wenn du plauderst. Ist das klar?«
»Das ist klar.«
»Gut. Fangen wir mit dem Praktischen an.«
Phil Marker legte ein Hin- und Rückflugticket über Honolulu und Seattle nach Amsterdam auf den Tisch. Vuk fiel es schwer, sich zu konzentrieren. Ständig mußte er zu Anna und den Zwillingen hinüberschauen, die gerade mit Mike Ball spielten. Phil Marker erklärte ruhig, daß der Flugschein auf Ron Gibson ausgestellt war, Mitarbeiter bei Microsoft. Der Paß lautete auf denselben Namen, war vier Jahre alt und trug Stempel asiatischer und europäischer Länder. Er sah gebraucht und abgegriffen aus. Auf dem Paßbild war Vuk zu sehen und doch wieder nicht. Es zeigte einen jüngeren Mann mit freundlichem Lächeln. Er hatte eine Kurzhaarfrisur mit Scheitel und trug eine dunkle, schmale moderne Brille. Sie verlieh seinem Gesicht Charakter und veränderte es. Das Bild war erst vor kurzem
Weitere Kostenlose Bücher