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Der Feind im Spiegel

Der Feind im Spiegel

Titel: Der Feind im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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und sie nur tagsüber herausgelassen hatte. Damals lebten über zwanzigtausend Juden in der Stadt. Heute waren noch sechshundert übrig. In den Gäßchen zwischen den schmalen Kanälen war es still, hierhin verirrte sich kein Tourist. Sie traten durch eine kleine Torwölbung in der Mauer auf einen Platz mit einem weißen runden Brunnen, hübschen Bäumen und einigen Stühlen und Tischen, die zu einem Café gehörten. Eine Gruppe halbwüchsiger Schüler betrachtete ein Relief am anderen Ende des Platzes, ein Holocaust-Mahnmal. Sie machten eifrig Notizen. Ein älterer Jude mit schwarzem Kaftan und Kippa überquerte den Platz in Begleitung eines jüngeren, ebenfalls schwarzgekleideten Mannes mit einem breitkrempigen Hut. Sie verschwanden in einem Gebäude, der Synagoge, wie Aischa ihm erklärte.
    In Venedig finde man sich nicht so leicht zurecht, sagte sie, weil weiterhin die uralte Einteilung der Stadt nach einem komplizierten Nummernsystem gültig sei. Aber sie steuerte nun zielbewußt auf ein Haus an der Ecke zu, von wo es auf eine weitere hübsche Brücke über einem träge dahinfließenden Kanal hinabging. Das Haus hatte offensichtlich die Nummer 1293. Neben der schweren Tür befanden sich sechs große, runde Messingklingeln. Auf der einen stand der Name Krassilnikow. Aischa klingelte. Aus der Türsprechanlage ertönte blechern eine trockene, angenehme Stimme. Aischa antwortete auf arabisch, die Tür ging auf, und sie stiegen die kühle Steintreppe bis zum dritten Stock hinauf, wo Ibrahim Krassilnikow an der Tür auf sie wartete. Auf dem Weg nach oben hatte Aischa ihr graues Halstuch muslimisch korrekt um den Kopf gewickelt. Per betrachtete sie von der Seite. Ihr Hals war jetzt sittsam bedeckt, aber auf der Stirn lugten ihre dunklen Haare noch unter dem Tuch hervor. Offenbar gab es verschiedene Arten, sich zu verschleiern.
    »Ibrahim ist alt und auch ein bißchen altmodisch. Mir bricht dadurch kein Zacken aus der Krone, und er ist zufrieden.«
    »Mir soll’s recht sein«, sagte Per.
    Sie gab ihm trotzdem eine Erklärung.
    »Er hat mir finanziell unter die Arme gegriffen, ich brauchte das Geld, als ich für meine Diplomarbeit ein Jahr in Rom und Brüssel gewesen bin. Er hat vielen geholfen.«
    »Schon in Ordnung, Aischa.«
    »Aber du magst keine Kopftücher.« Das war eine Feststellung, keine Frage.
    »Das müßt ihr Frauen selber entscheiden. Aber ich verstehe euch einfach nicht. Ich verstehe nicht, warum ihr den Schleier nicht auf den Müll schmeißt und wie freie, gleichberechtigte Frauen lebt. Ihr erinnert mich an meine Großmutter. Die war auch ihrem Mann und der Inneren Mission untenan. Aber das ist hundert Jahre her.«
    »So einfach ist es nicht.«
    »Wie gesagt, mir egal.«
    »Ibrahim ist ein alter Mann«, wiederholte sie, als müßte das als Erklärung reichen.
    Ibrahim Krassilnikow war sehr schlank und klein und hatte ein schmales, freundliches Gesicht, das wie seine Hände voll dunkler Altersflecken war. Seine Augen waren braun und klar. Er trug einen alten, aber ordentlichen grauen Anzug mit einer leichten Strickweste und einer dunklen Krawatte. Toftlund war froh, die Lederjacke angezogen und den Schlips festgezogen zu haben, ehe sie ins Haus getreten waren. Hier stand ein Stück lebendiger Geschichte vor ihm, wie er es in dem italienischen Dossier über ihn gelesen hatte.
    Ibrahims Vater, Fürst Igor Krassilnikow aus Sankt Petersburg, war im Frühjahr 1919 vor den Bolschewiken nach Paris geflüchtet. Seine junge Frau starb wenige Monate nach der Ankunft an Tuberkulose, die sie aus Petersburg mitgebracht hatte. Der Rest seiner Familie, die enge Verbindungen zur Zarenfamilie hatte, wurde abgeholt und hingerichtet. Ein Grab wurde nie gefunden. Vermutlich wurden sie in einen Minenschacht geworfen und mit Schwefelsäure übergossen. Oder in irgendein Massengrab. Davon gab es ja genug in Rußland. Es handelte sich um einen Bruder und dessen Frau, eine Schwester und deren Mann und ihre drei minderjährigen Kinder, sowie die Mutter des Fürsten. Als der Libanon 1920 französisches Mandatsgebiet wurde, siedelte der Fürst nach Beirut über, um die Tochter eines wohlhabenden Händlers zu heiraten. Der russisch-orthodoxe Fürst konvertierte zum Islam, vielleicht hat er damit eine Forderung des Brautvaters erfüllt. Der Fürst war nämlich bettelarm. Er stieg in die Teppichfirma des Schwiegervaters ein. Ibrahim wurde 1921 als erstes von sechs Kindern geboren. Heute ist er der einzige von ihnen, der noch lebt.

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