Der Feind im Spiegel
haarsträubender vorgekommen war. Die Unmengen von Tauben, die einem um die Ohren flogen, oder die Unmengen japanischer Gruppen, die einer Fahne folgten, die sie hoch erhoben vorwärts kommandierte, als führte irgendein General seine Truppen aufs Schlachtfeld. Und dann die Kameras. Toftlund hatte sich nie als Tourist verstanden, wenn er reiste. Er reiste, weil es zu seinem Job gehörte. Kirchen besuchen, Museen besichtigen, alte Steine bewundern, das war nicht sein Ding. Darauf hatte er noch nie viel Zeit verwandt. Er müsse das noch lernen, sagte Lise immer. Spanien, ja, das Land hatte er oft durchquert. Aber das war was anderes. Da gab’s die Sprache, das Volk, die Stiere, die Sonne, das Essen, das Nachmittagslicht in einem hübschen Café – all das, was die Spanier ambiente nannten. Andererseits … In Trujillo in der Estremadura war er vernarrt gewesen. Diese sonnenermattete Stadt, von der aus eine Handvoll wettergegerbter Männer übers Meer gesegelt war und sich ganz Südamerika untertan gemacht hatte. Eine Stadt, in der die Störche und der harte Boden einen unauslöschlichen Eindruck bei ihm hinterlassen hatten. Er war wegen dieser Spinner ins Museum gegangen und hatte sie einfach auf sich wirken lassen. Er konnte sie verstehen. Sie waren hart, wie die Sonne, die sie gegerbt hatte. Als junger Soldat, als sich alles um Kraft, Muskeln und Ausdauer drehte, hatte er ein unmittelbares Zugehörigkeitsgefühl zu den Konquistadoren entwickelt. Ob er damals, als er sich das Denkmal von Pizarro und die Störche angeschaut hatte, nicht doch bloß ein simpler Tourist gewesen war?
Sie gingen geruhsam an den Kanälen entlang spazieren, wo das Geräusch des an die Steinmauern schwappenden Wassers sie auf wundersame Weise beruhigte. Die unteren Etagen waren verbarrikadiert, und an den grauschwarzen Schatten an Mauern und Balken konnte man erkennen, daß das Wasser oft viel höher stand als heute. Je weiter sie sich von den Touristenzentren entfernten, desto mehr nahm die Stadt Per für sich ein, die Restaurants wurden kleiner und authentischer, die Sprache hörte sich wirklich italienisch an. In den kleinen Höfen und Gassen, die sich immer wieder seinen Blicken öffneten, spielten Kinder. Auch auf engstem Raum konnten vier Jungen ein richtig zünftiges Fußballspiel zustande bringen. Es blühten schon eine Menge Blumen, und überall waren merkwürdige Figuren und Teufel oder Engelsmäulchen zu entdecken. Ihre großen Augen schienen sie zu verfolgen, wenn sie um eine der vielen Ecken bogen oder eine neue Brücke überquerten. Wäsche war zum Trocknen aufgehängt worden. Die Fensterläden waren so grün wie das Wasser. Ab und zu stießen sie auf etwas größere Plätze mit einem Café und frisch knospenden Bäumen, und in einem französischen Fenster stand ein Paar mit Gläsern in den Händen und blickte lächelnd zu ihnen hinunter. Sie kamen an alten Brunnen mit Deckeln und an unzähligen halb verfallenen und doch majestätischen Palazzi vorbei, und das Licht zwischen den Häusern und über den Kanälen und zwischen den Brückengeländern changierte in einem weiß-grünen Schimmer. Hinter einer Ecke warfen vier Männer Abfallsäcke auf ein Müllboot, eine der ganz normalen Tätigkeiten in einer ganz normalen Stadt. Alles war in Bewegung, und zusammen mit dem Licht über dem Wasser verursachte das ein sonderbar unwirkliches Traumgefühl, als wenn er anwesend wäre und zugleich doch nicht.
Toftlund genoß es, an Aischas Seite durch das frühlingsmilde Venedig zu wandern. Die vergangenen Monate waren reichlich anstrengend gewesen, und das ungeklärte Verhältnis zu Lise hatte es nicht besser gemacht. Er vermißte sie. Jedenfalls ab und zu. Aber zu behaupten, er vergehe vor Sehnsucht nach ihr, wäre übertrieben gewesen. Das machte ihm hin und wieder Kummer, aber eins war klar: Wenn sich die Situation entspannen sollte, mußte er einlenken und sein Leben ändern. Das könnte er sicher auch, aber hatte er überhaupt Lust dazu? Und wenn es wirklich soweit wäre, würde er es dann auch noch können? Am meisten vermißte er Freya. Toftlund versuchte an etwas anderes zu denken und lauschte Aischas Vortrag über einen reichen Adligen, der in dem Haus gelebt hatte, vor dem sie gerade standen.
Ibrahim Krassilnikow wohnte in einem Bezirk, den Aischa das jüdische Ghetto oder das jüdische Viertel nannte. Oder schlicht das Ghetto. Das Wort sei in Venedig erfunden worden, erklärte sie, als man die Juden hinter eine Mauer gesperrt
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