Der Feind in deiner Nähe
Weihnachtsbaums war ange-schaltet. Das ganze Haus roch nach frischer Farbe.
Ich hatte damit gerechnet, Holly im Bett vorzufinden, aber sie saß auf der Couch. Sie trug eine alte Jeans und einen melierten Rollkragenpullover mit überlangen Ärmeln, hatte ihr Haar zu Zöpfen geflochten und war völlig ungeschminkt. Sie sah aus wie eine Zwölfjährige und wirkte so bleich und fragil, dass ich mir neben ihr groß und plump vorkam. Ich beugte mich zu ihr hinunter, um sie ganz vorsichtig auf die Wange zu küssen, aber sie schlang beide Arme um mich und drückte mich fest an sich.
»Keine Angst, ich zerbreche schon nicht«, lachte sie. »Ich bin ein zähes altes Huhn.«
Sie stand auf und streckte Todd die Hand hin. »Ich glaube, ich war beim letzten Mal ziemlich unhöflich«, sagte sie, »wurde aber inzwischen darüber aufgeklärt, dass es sich dabei um ein Symptom einer Geisteskrankheit handelte. Können wir noch einmal von vorn beginnen? Und vielleicht gleich du zueinander sagen?«
»Eine gute Idee«, antwortete Todd und gab ihr verlegen die Hand. »Es freut mich, dass es dir besser geht.«
»Inzwischen kommt mir das alles wie ein Traum vor. Hauptsächlich, weil es hier im Haus mit keinem Wort erwähnt wird.«
Sie senkte ihre Stimme zu einem melodramatischen Flüstern.
»Das Sterben, meine ich. Meinen Versuch zu sterben. Oder meinen manisch-depressiven Zustand. Sie sagen bloß: ›deine Krankheit‹ oder ›was dir passiert ist‹, lauter solches Zeug.
Deswegen wollte ich unbedingt, dass Meg vorbeikommt. Du kennst sie ja, sie ist so …«
Sie suchte nach dem richtigen Wort. Ich saß ihr mit mürrischer Miene gegenüber und wartete darauf, dass nun »solide« oder
»zuverlässig« folgen würde.
»So ehrlich « , sagte Holly schließlich. »Uns bleiben ungefähr zwanzig kostbare Minuten, bis Charlies Mutter vom Einkaufen zurückkommt und meine Mutter von wo auch immer sie gerade ihr Unwesen treibt. Mein Gott, ich wünschte, Weihnachten wäre schon vorbei. Sie hätten mich besser noch bis Neujahr im Krankenhaus lassen sollen. Meg, warum siehst du mich so an?«
»Ich suche krampfhaft nach einem Weg, dich zu fragen, wie es dir geht«, antwortete ich.
»Keine Sorge«, beruhigte mich Holly. »Ich habe nicht vor, einen weiteren Selbstmordversuch zu unternehmen. Außerdem möchte ich sowieso nicht über mich reden. Das Thema hängt mir zum Hals heraus. Erzähl mir vom Büro. Irgendwelche Klatschgeschichten. Egal, was.«
Ich hatte ihr eigentlich von Rees erzählen wollen und dass sie keine Spielschulden mehr hatte, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Irgendwie konnte ich es nicht, während Charlie nebenan in der Küche werkelte, Todd mir so verlegen und bemüht gegenübersaß und Holly selbst vor sich hinquasselte wie ein aufgeregtes Kind. Ich fühlte mich plötzlich sehr erschöpft.
Wir sprachen über belanglose, unproblematische Themen. Dann bat sie mich, ihr zu helfen, ein Weihnachtsgeschenk für Charlie auszusuchen. »Obwohl ich keine Ahnung habe, was ich ihm schenken soll«, fügte sie hinzu. »Charlie ist der Typ Mann, der nichts braucht.« Plötzlich wirkte sie niedergeschlagen. Sie wandte sich an Todd. »Was würdest du ihm schenken?«
»Tja … keine Ahnung. Vielleicht etwas, das mit seiner Arbeit zu tun hat?«
»Ich glaube nicht, dass er noch arbeitet. Meiner Meinung nach macht er nichts mehr, seit ich offiziell für verrückt erklärt wurde. Und vorher war er auch schon nicht mehr so richtig aktiv. Er sagt, das sei im Moment nicht so wichtig, er müsse sich jetzt erst mal um andere Dinge kümmern.«
»Da hat er Recht«, sagte ich.
»Ich möchte nicht, dass er sich um mich kümmert. Das übernehme ich jetzt wieder selbst. Ich möchte, dass er arbeitet. Er ist sehr gut in dem, was er tut. Als ich ihn kennen lernte, war ich davon überzeugt, dass er es weit bringen würde. Das dachte ich allerdings von mir selbst auch mal. Jedenfalls können wir uns nicht einfach in unserem Haus einschließen und so tun, als gäbe es die Welt draußen nicht mehr. Wir können nicht den Rest unseres Lebens Suppe schlürfen und Naomis Ingwerkuchen essen, oder?«
»Nein, wahrscheinlich nicht«, gab ich ihr Recht. Mir ging durch den Kopf, dass es jetzt vielleicht doch an der Zeit war, ihr von dem Geld zu erzählen.
»Wie wär’s mit einem Bademantel?«, fragte Todd.
Hollys Miene hellte sich auf. »Das ist eine gute Idee. Ich werde ihm einen Bademantel schenken. Todd, du bist genial!«
»Er ist nett! « ,
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