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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Gehe nicht in die Arbeit.
    Ich werde … ich werde einfach daheim bleiben. Ich werde auf dich warten, ja?«
    »Wie du meinst.«

    Er verließ den Park. Ich schaute ihm nach. Er ging mit gesenktem Kopf. Sein langer Mantel wehte im Wind. Ich sah ihm nach, bis er außer Sichtweite war. Dann setzte ich mich auf eine Bank.
    Als kleines Mädchen machte ich immer lange Spaziergänge mit meinem Vater. Jedes Mal, wenn wir einen Zaun oder eine Mauer erreichten, kletterte ich hinauf, und wenn ich oben war, forderte er mich auf, in seine ausgestreckten Arme zu springen.
    Ich zögerte nie. Sogar wenn es sehr hoch war, stürzte ich mich hinunter, weil ich wusste, dass er mich auffangen würde. Er nannte mich seinen Wildfang. Seine Heldin. Ich flog durch die Luft in die Sicherheit seiner Arme. Dann verließ er mich, und ich flog immer noch durch die Luft, aber es war niemand mehr da, der mich retten konnte, niemand, der mich auffing, wenn ich fiel.
    Irgendwann erhob ich mich. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich auf der Bank gesessen hatte, aber meine Hände waren von der Kälte ganz weiß.
    Als ich zu Hause ankam, traf ich Naomi, und sie fragte mich, ob ich Lust hätte, mit ihr eine Tasse Kaffee zu trinken. Ich wollte sie schon abwimmeln, aber dann dachte ich mir: Warum nicht?
    Als ich meine Schlüssel herausholte, stellte ich fest, dass der Haustürschlüssel fehlte. Ich wühlte in meiner Tasche herum, weil ich hoffte, dass er sich dort irgendwo versteckt hatte, konnte ihn aber nicht finden.
    »Ich hasse das!«, stöhnte ich, fast schon den Tränen nahe.
    »Immer verliere ich meine Schlüssel. Schlüssel, Geldbörsen, Sonnenbrillen, Handys, Schirme. Egal. Ich verliere alles.«
    »Aber du hast doch einen Schlüsselring, und deine ganzen anderen Schlüssel hängen noch dran. Wie kannst du da einen verlieren?«, fragte sie geduldig.
    »Es ist ein ganz blöder Schlüsselring«, antwortete ich. »Absolut blöd. Sieh dir das an. Ich kann mich bloß nicht davon trennen, weil er meinem bescheuerten Vater gehört hat. Hah.«
    »Ist ja nicht so schlimm. Du hast mir doch vor Monaten mal einen Ersatzschlüssel gegeben, für Notfälle. Ich hole ihn dir schnell.«

    Ich ließ mich auf der Haustreppe nieder. Nach ein paar Minuten kam sie mit dem Schlüssel zurück.
    »Hier. Behalte ihn, bis du den anderen gefunden hast.«
    »Danke.«
    »Oder glaubst du, jemand hat ihn gestohlen?«
    »Gestohlen?« Ich versuchte, mir meine plötzliche Angst nicht anmerken zu lassen. »Wie kommst du darauf?«
    Sie zuckte mit den Achseln. Dann schloss sie meine Haustür auf und reichte mir den Schlüssel.
    Am Ende war sie diejenige, die den Kaffee machte und im hintersten Winkel des Küchenschranks ein Päckchen Kekse fand. Sie erklärte, ich sähe ein bisschen blass und kränklich aus, und nötigte mich, zwei Schokoladenkekse zu essen. Dann fragte sie mich, was mir fehle. Ich wollte antworten, mir fehle nichts, es gehe mir gut, aber mir liefen bereits die Tränen über die Wangen. Als sie mich umarmte, stellte ich fest, dass sie nach Vanille und etwas Würzigem wie Muskat roch. Ein paar Sekunden lang genoss ich die mütterliche Wärme ihrer Umar-mung.
    »Du hast gebacken«, murmelte ich mit tränenerstickter Stimme.
    Während sie mir die Tränen vom Gesicht wischte und meine Hand hielt, versuchte sie, mich mit beruhigenden Worten zu trösten. Sie sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, bestimmt würde ich mich bald wieder besser fühlen.
    Dann ging sie, und ich blieb einfach am Küchentisch sitzen.
    Ich wartete auf Charlie, auch wenn ich nicht viel Hoffnung hatte, dass er tatsächlich nach Hause kommen würde. Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit erschien, legte ich die Wange auf das gemaserte Holz der Tischplatte und schloss die Augen.
    Ich würde einfach schlafen. Schlafen und nie wieder aufwachen.

    15
    Ich hatte mich immer für völlig unentbehrlich gehalten, mir eingebildet, diejenige zu sein, die den Großteil der Arbeit machte, die Firma über Wasser hielt, Charlie dabei half, seine künstlerischen Ambitionen zu verwirklichen, und als strahlender Mittelpunkt jede Party bereicherte. Damit war nun Schluss.
    Inzwischen kam ich mir eher vor wie der schwächste Teilnehmer einer Expedition, der alle aufhielt und deren Leben gefährdete. Ich war das Mädchen in dem alten Schwarzweiß-
    Sciencefictionfilm, dessen Pfennigabsatz abbrach, während sie gerade vor dem Monster davonlief.
    Ich stand in der Regent Street und holte tief Luft. Es hing alles davon

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