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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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der Hand zu rutschen begannen. Er küsste mich auf beide Wangen. »Es ist lieb von dir, dass du so oft hier bist. Wirklich. Wie geht es ihr?«
    »Besser, glaube ich. Sie –«
    Aber ich kam nicht mehr dazu, den Satz zu Ende zu führen, weil gerade eine kleine Gruppe von Leuten eintraf. Dr. Thorne wurde von einer Krankenschwester und einem jungen Mann mit kurz geschorenen Haaren begleitet, der ebenfalls einen weißen Mantel trug. Die Schwester begann die Schläuche zu überprü-
    fen, als wäre Holly ein defekter Boiler. Ich nutzte die Gelegenheit, um Dr. Thorne am Arm zu berühren. »Ich würde gern mit Ihnen sprechen«, sagte ich so leise, dass Holly es nicht hörte.
    »Worüber?«, fragte Dr. Thorne.
    »Können wir kurz hinausgehen? Das ist besser. Wir haben uns kürzlich schon mal getroffen. Mein Name ist Meg Summers. Ich bin eine sehr enge Freundin von Holly. Und auch ihre Geschäftspartnerin.«
    »Ja, sie hat Sie schon ein paarmal erwähnt.«
    »Ich mache mir Sorgen um Holly.«
    »Das tun wir alle.«
    »Nein, ich meine, ich bin ganz durcheinander. Ich möchte mich wirklich nicht einmischen, aber es gibt da einen Punkt, den ich nicht verstehe.«
    »Und der wäre?«, fragte Dr. Thorne.
    »Holly hat versucht, sich umzubringen, und Sie behandeln Sie wegen schwerer Depression.«
    »Wegen einer affektiven Psychose, um genau zu sein.«
    »Wobei es sich um eine Art Geisteskrankheit handelt.«
    »Richtig.«
    »Der Punkt ist, dass ich gerade ein langes Gespräch mit Holly geführt habe. Wäre es denkbar, dass etwas, das wie eine Depression aussieht, auch eine ganz normale Reaktion auf extremen Stress sein könnte?«
    »Wie meinen Sie das?«
    Ich holte tief Luft und berichtete Dr. Thorne kurz von der Geschichte, die Holly mir gerade erzählt hatte. »Verstehen Sie?«, sagte ich abschließend. »Wenn ich auf diese Weise bedrängt würde, dann würde ich wahrscheinlich auch durchdre-hen.«
    Dr. Thorne wirkte nachdenklich. »Lassen Sie uns eine Tasse Kaffee trinken«, sagte er.
    Ich dachte erst, dass er mit mir in sein Büro oder ein richtiges Café gehen wollte, aber er meinte einen Kaffeeautomaten auf dem Gang vor der Krankenstation. Der Kaffee schmeckte scheußlich.
    »Als ich anfing, Biologie zu studieren«, begann Dr. Thorne,
    »hatte ich immer Probleme mit dem Zusammenhang zwischen Vogelnestern und Genetik. Vogelnester sind etwas so Spezifi-sches, und doch fallen sie innerhalb der einzelnen Arten ähnlich aus. Wie konnten die Gene der Vögel für einen Prozess verantwortlich sein, bei dem es darum ging, Moos, Gras oder Zweige zu finden und mit Schlamm oder Speichel zusammenzufügen?
    Die Entwicklung des Gehirns hängt tatsächlich zu einem großen Teil von äußeren Reizen ab. Das menschliche Gehirn ist darauf programmiert, Sprache zu lernen, aber das Kind muss Sprache von außen erfahren, damit die Sprachzentren des Gehirns angeregt werden. Analog dazu kann man ein Vogelnest als eine Erweiterung des Vogelgehirns sehen, nicht mit elektrischen Impulsen, sondern mit Elementen der Außenwelt.«
    »Ich verstehe nicht recht …«
    »Holly hat mir ebenfalls von ihren Ängsten erzählt«, fuhr Dr. Thorne fort.
    »Was ich wissen wollte«, sagte ich, »ist, ob diese Katastrophen in ihrem Leben real sind oder aber Teil ihrer Krankheit.«
    Dr. Thorne lächelte, als hätte er gerade eine besonders kniffli-ge Quizfrage gelöst. »Sowohl als auch, könnte man sagen.
    Darauf wollte ich hinaus, als ich vorhin das Vogelnest erwähnte.
    Hollys Geist ist in Aufruhr, was sich zum Teil in einer Form der Selbstzerstörung manifestiert hat. In den letzten Monaten hat sie ihre Umwelt in etwas verwandelt, das man ebenfalls als Erweiterung ihres eigenen Gehirns betrachten kann. Man könnte sagen, dass sie ihren Selbsthass externalisiert hat, indem sie Situationen schuf, in der andere Menschen ihr gegenüber genauso empfinden wie sie sich selbst gegenüber. Sie ist eine paranoide Frau, die sich, um ihre Paranoia zu rechtfertigen, eine entsprechende Umwelt zurechtgezimmert hat.«
    »Wollen Sie damit sagen, dass alle Ängste Hollys begründet sind?«
    »Ich bin Arzt und kein Polizist. Trotzdem ist mir klar, dass es nicht nur darum geht, das Gehirn von Holly Krauss mit chemischen Mitteln zu behandeln und ihr eine Psychotherapie zu verordnen, obwohl beides sicher sehr wichtig ist. Sie ist kein Gehirn in einem Glasgefäß. Sie lebt in einer Welt, und eines Tages wird sie hoffentlich wieder in diese Welt zurückkehren und dort leben müssen.«
    »Ja,

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