Der Feind meines Vaters - Roman
drängen, in die ich gehörte, und mir die fixe Idee auszutreiben, ich könnte selbst über mein Leben bestimmen und die imaginäre Mauer zwischen Tränen und Schuldgefühlen überspringen, wann immer ich wollte. Von allen Antworten, die ich je im Leben gegeben habe, war keine so falsch und so traurig wie jene.
»Nein.« Ich war natürlich erst zehn und konnte es nicht wissen. »Ich würde lieber weiter zum Unterricht kommen.«
»Sicher?«
»Ja.«
Die Wahrheit ist die ganze Wahrheit und nicht nur der Teil von ihr, der uns zusagt. Am 25. Juni blieb in Fuensanta de Martos alles ruhig. Die in den Bergen gaben kein Lebenszeichen von sich und die im Tal taten so, als gäbe es sie nicht. Die Guardia Civil ging ihrer alltäglichen Routine nach, so wie auch der Briefträger, und weil es sich um ein amtliches Schreiben des Generalkapitanats von La Coruña handelte, ging er zuallererst, noch ehe er die übrige Nachmittagspost zustellte, zum Hof der Rubias hinauf, um es Catalina auszuhändigen. Auf einem mit Schreibmaschine getippten kleinen Blatt wurde sie mit wenigen knappen Sätzen von Francisco Rubio Martíns Tod unterrichtet, geboren in Fuensanta de Martos, Provinz Jaén, Sohn von Lucas und Catalina, 28 Jahre alt. Er habe keine gültigen Ausweispapiere bei sich gehabt, sei illegal nach Spanien eingereist und am Nachmittag des 19. Juni 1948 an einer Straßensperre der Guardia Civil an der Ausfahrt von El Barco de Valeorras, Richtung Ponferrada, der Aufforderung anzuhalten nicht nachgekommen. Bei der anschließenden Schießerei seien ein Beamter der Guardia Civil und die drei Insassen des Wagens ums Leben gekommen, der oben genannte Francisco Rubio Martín und zwei bekannte Banditen aus der Provinz von Orense. Ein vierter, schwer verwundeter, habe seine Kumpane identifiziert, ehe er bei einem Fluchtversuch von den Beamten erschossen worden sei.
»Die kriegen sie nicht mehr, nein, Señor.«
Francisco, der seine Mutter erst vor zwei Wochen eine große Freude gemacht hatte, als er ihr aus Toulouse ein Foto von seiner Hochzeit geschickt hatte, war frisch verheiratet nach Spanien zurückgekehrt, um am anderen Ende der Halbinsel zu sterben, in einer feuchten, sanften Landschaft, die niemand aus seiner Familie je betreten hatte. Vielleicht war es auch für ihn das erste Mal gewesen, vielleicht auch nicht. Vielleicht war er in den Pyrenäen über die grüne Grenze gekommen, vielleicht aber auch als feiner Herr im Zug oder im Wagen, mit falschen Papieren, französischen, spanischen oder noch anderen. Tatsache war, dass er zurückgekehrt war, mit einer Pistole, einem Wagen und Geld, um drei Widerstandskämpfer aus Galicien herauszuholen, so wie ein anderer Mann mit einem anderen Akzent, anderen Papieren, einer anderen Pistole, einem anderen Wagen und einer anderen Brieftasche mit echtem Geld ihn vor anderthalb Jahren aus der Sierra Sur herausgeholt hatte. So lange hatte Franciscos Glück gedauert, anderthalb Jahre.
Er hat getan, was er tun musste, Mutter. Auch sein Bruder Anselmo schrieb ihr, als er davon erfuhr. Sein Brief hatte keinen Briefkopf, keine Briefmarken und keinen Absender und wurde auch nicht vom Briefträger gebracht. Er konnte sich nicht weigern, Genossen zu helfen, die in Gefahr waren und die viele andere in Gefahr bringen konnten, wenn sie der Guardia Civil in die Hände gefallen wären. Er hat nicht einmal daran gedacht, den Auftrag abzulehnen, er wusste, was er tun musste, und er tat es. Du kannst stolz auf ihn sein, denn er starb für Spaniens Freiheit, wie ein Kämpfer, wie ein Volksheld, so wie er lebte, Mutter …
Der Brief linderte Catalinas Schmerz und half ihr, die Verbitterung über einen Tod zu ertragen, der genauso grausam war wie der ihres Sohnes Nicolás. Es war der willkürliche Tod eines Überlebenden, eines Menschen, der auserwählt worden war, um zu leben, eines Mannes, der in Frankreich hätte bleiben oder nach Amerika hätte auswandern können, der seine Flitterwochen hätte genießen, eine Arbeit finden, Kinder und ein glückliches Leben haben können, um alt zu werden und in einem großen Bett mit sauberen Laken, umgeben von seinen Kindern, zu sterben. Eines Mannes, der das geschenkte Glück in einem verhängnisvollen Anfall von Edelmut oder Wahnsinn verschleudert hatte. Francisco el Rubio war in der Hierarchie des Widerstandes sehr weit aufgestiegen. Weil sein Kopfgeld so hoch war, hatte er das Privileg gehabt, in einer organisierten und von außen unterstützten Fluchtaktion das Land zu
Weitere Kostenlose Bücher