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Der Feind meines Vaters - Roman

Der Feind meines Vaters - Roman

Titel: Der Feind meines Vaters - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Almudena Grandes
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eingehen muss, und zugleich ist er so feige, dass ihm die Angst in der kleinsten Krise so sehr zusetzt, dass er einem zehnjährigen Jungen wie ein Dummkopf erscheint. Dich, der du mutig bist, muss sie klüger machen, du musst die Gefahr noch bewusster erkennen, die du zum Beispiel eingehst, wenn du Don Eusebio bei den Prüfungen das vorlegst, was ich dir hier erzähle, wo uns niemand hören kann. Verstehst du das?«
    Ich nickte, und sie lächelte, als wäre auch ihr nicht bewusst, was dieses ungerechte Ausreichend bedeutete, das mir der Lehrer in Geschichte gegeben hatte.
    »Und die Wahrheit?«, fragte ich. »Was ist mit der Wahrheit?«
    »Mit welcher Wahrheit?« Sie lächelte erneut. »Um beim 2. Mai zu bleiben, zum Beispiel … War Manolita Malasaña eine Heldin, eine Patriotin, die bis zum Schluss gegen die Fremden kämpfte, die ihr Land besetzen wollten? Offensichtlich ja. Und die Anhänger Napoleons? All diese Liberalen, die davon überzeugt waren, dass Spanien nichts Besseres passieren konnte, als dass Napoleons Truppen der aus einer Dynastie von korrupten Despoten und Halbidioten entsprungenen absoluten Monarchie Spaniens endgültig ein Ende machten? Waren sie keine Patrioten? Wollten sie nicht das Beste für ihr Land? Offensichtlich doch. Und Jovellanos und Quintana und Goya und all die Liberalen, die anfangs für Napoleon waren und kurz darauf schon nicht mehr, als sie sahen, dass die französische Armee keineswegs gekommen war, um ihnen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu bringen, sondern um den maßlosen Machthunger eines Tyrannen zu stillen, dem es nichts ausmachte, Unschuldige zu töten, ihre Häuser dem Erdboden gleichzumachen und ein ganzes Land zu zerstören, nur um es zu besetzen? Sie blieben einsam und allein mit ihren intakten Idealen und träumten von einer Freiheit, einer Gleichheit und einer Brüderlichkeit, die ihnen niemand bringen würde, sondern die nur sie selbst mit ihrem eigenen Leben verwirklichen konnten. Waren sie nicht die wirklichen Patrioten?«
    Wir waren immer noch beim 2. Mai , und obwohl dieser längst vergangene Tag im Jahr 1808 so weit weg war, füllten sich Doña Elenas Augen mit Tränen.
    »Verzeih.« Sie wischte sie schnell weg. »Was ich dir erklären wollte, ist, dass die Wahrheit immer die ganze Wahrheit ist und nicht nur ein Teil davon. Die Wahrheit ist das, was passiert ist und uns gefällt, aber auch das, was passiert ist und uns so abscheulich vorkommt, dass wir alles darum geben würden, es ungeschehen zu machen. Um auch das zu akzeptieren, muss man mutig sein, und da Don Eusebio ein Feigling ist, kann er den Teil der Wahrheit, der Männern wie Jovellanos gehört, nicht akzeptieren. Nicht, weil er sie nicht zu schätzen wüsste, sondern weil ihm klar ist, dass es gefährlich für ihn wäre. Aber selbst die mutigsten, gerechtesten und ehrlichsten Menschen interpretieren die Realität anhand dessen, was sie für gut oder böse halten, was sie sich wünschen, was sie fürchten, glauben und verabscheuen. Und so bilden sie sich ihre eigene Wahrheit.«
    »Weil gut und böse nicht für alle Menschen dasselbe sind«, dachte ich laut nach, doch dann sagte sie etwas, worum ich nicht gebeten hatte.
    »So ist es. Übrigens, Nino, jetzt, wo du Schulferien hast, willst du nicht auch eine Weile von meinem Unterricht freihaben?«
    Hätte ich ja gesagt, wäre alles so geblieben, wie es war, zumindest eine Zeitlang, vielleicht auch für immer. Hätte ich ja gesagt, wäre die Wahrheit höchstens ein interessantes Gesprächsthema gewesen für die müßigen Nachmittage des Sommers. Hätte ich ja gesagt, hätte ich vielleicht weiter in jener hauchdünnen rosaroten Luftblase schweben können, von Unterrichtsstunde zu Unterrichtsstunde, von Buch zu Buch, geschützt vor den Gefahren, die sich in Catalinas eisigen Blicken, Don Eusebios pathetischer Empörung, Vaters sich zuspitzenden Vorsichtsmaßnahmen und der unveränderlichen Abfolge der Kalenderblätter bargen. Meine Noten waren ein Warnschuss gewesen, den ich nicht hatte beachten wollen, weil ich mich in jener verklärten Zwischenzeit des Frühlings daran gewöhnte, so zu tun, als lebte ich nicht im Juni 1948 in der Kaserne der Guardia Civil von Fuensanta de Martos.
    Trotzdem existierte ich an diesem Ort und in dieser Zeit. Ungeachtet meiner bescheidenen Glückseligkeit verfolgten mich Zeit und Raum, spionierten mir unablässig nach, ohne dass ich es bemerkte, und warteten auf eine Gelegenheit, mich auf die Seite der Welt zu

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