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Der Feind meines Vaters - Roman

Der Feind meines Vaters - Roman

Titel: Der Feind meines Vaters - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Almudena Grandes
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so sorgfältig aufgestapelt, dass sie wie ein weißes Buch ohne Umschlag aussahen. Doña Elena saß aufrecht auf dem Stuhl, die Arme leicht gekrümmt, die Hände offen auf der Decke, als wachten sie über die Maschine. Sie sah aus wie die Hohepriesterin eines der geometrischen Harmonie gewidmeten Tempels, wobei sie selbst schon immer diese Vollkommenheit verkörperte, jedoch noch nie in solchem Maße wie an diesem Tag: vom Kopf, wo sie auch das letzte widerspenstige Härchen in die Disziplin eines strengen Haarknotens gezwungen hatte, bis zu den Füßen, in alten, aber blitzblank geputzten Schuhen, die so eng nebeneinanderstanden, dass man sie für einen einzigen Schuh hätte halten können.
    All das fiel mir auf, bis sie mich anblickte. In dem Moment überlegte ich nicht mehr, wie oft sie jeden Gegenstand umgestellt haben mochte. Noch nie hatte ich ein derart düster glühendes Licht in ihren Augen gesehen. Es wirkte ungenau, diffus.
    »Seit du neulich weggelaufen bist, überlege ich, was ich dir sagen soll, Nino.« Auch ihre gedämpfte, stumpfe Stimme war neu für mich. »Ich suche nach einer Geschichte, die ich dir erzählen könnte, in meinem Kopf, in den Büchern, überall. Aber ich finde keine. Das ist typisch für Spanien, weißt du. Dieses Land … was hier passiert, ist auch schon woanders passiert, trotzdem ist es nicht dasselbe, weil wir Spanier immer irgendwie zu spät oder zu früh kommen, nie zur richtigen Zeit, und deshalb … Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Nur dass es mir sehr leid tut, was neulich passiert ist. Das ist wahr, du kannst es mir glauben, Nino.«
    Auch ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich blieb ein paar Schritte vor dem Tisch stehen, traute mich weder vor noch zurück, fragte mich, was ich machen, wie ich auf sie zugehen sollte, als Doña Elena plötzlich aufstand und alles durcheinanderbrachte: die unmenschliche mathematische Präzision, die Tischdecke, die Schreibmaschine, die Blätter, die Bleistifte, und in dieser tröstlichen Unordnung kam sie auf mich zu und breitete die Arme aus, und ich schmiegte mich an sie, umarmte sie und ließ mich umarmen, bis wir uns beide beruhigt hatten. Als wir uns voneinander lösten, hatte Doña Elena feuchte Augen. Ich hingegen hatte all meine Tränen bereits vergossen.
    »Danke«, sagte ich. Sie nickte, blieb stumm, aber ich hatte bereits einen Vorwand gefunden, um die lähmende Stille zu brechen. »Erinnern Sie sich noch? Sie haben mir einmal die Geschichte eines Griechen erzählt, der von den Göttern dazu verurteilt wurde, einen großen Felsbrocken auf dem Rücken zu tragen …«
    »Ja, natürlich.« Sie lächelte. »Sisyphus.«
    »Genau, Sisyphus.« Dieses Wort war ein Auslöser, wie von selbst gingen wir beide noch ein wenig unsicher auf den Tisch zu. »Ich habe gestern versucht, mich an den Namen zu erinnern, aber ich kam nicht darauf und wusste auch nicht mehr, was er verbrochen hatte, für welche Sünde er diese Strafe bekommen hatte.«
    »Na schön, dann erzähle ich dir die Geschichte noch einmal.« Wir setzten uns an unsere Plätze, zogen die Tischdecke wieder straff, rückten die Blätter zurecht und legten die Bleistifte auf das Heft. »Aber danach machen wir weiter mit dem Unterricht, ja?«
    Jene Unterrichtsstunde war zugleich der Schlussstrich unter einem Intermezzo von Schrecken und Erkenntnissen, das zwei Tage zuvor an der Tür der Rubias begonnen hatte, und der Beginn eines neuen Lebens für mich. Eines Lebens, in dem das kindliche Privileg der Unbesonnenheit, Ahnungslosigkeit und Aufrichtigkeit unter der Last eines Geheimnisses aufgehoben wurde, dessen Preis genauso hoch und langwierig war wie die Strafe des Sisyphus. Doch das merkte ich in diesem Augenblick nicht einmal, so glücklich machte mich die Annahme, zu meinem früheren Leben zurückgekehrt zu sein.
    »Wenn du willst, können wir morgen die Stunde von vorgestern nachholen.« Doña Elena brachte mich zur Tür, und als sie sie öffnete, sahen wir Paula, die ihre Schritte beschleunigte, als sie erkannte, dass wir fertig waren.
    »Gehst du schon, Nino?«, fragte sie, als sie uns fast erreicht hatte.
    »Ja.« Erst da erinnerte ich mich an die Zigaretten in meiner Tasche.
    »Warte, ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«
    Ich musterte sie ganz genau und fand sie wie immer, weder besser noch schlechter gelaunt als sonst, aber ruhig. Sie hatte herzlich wenig Ähnlichkeit mit der Frau mit der Fischschere in der Tasche aus Pepes Geschichte, mit

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