Der Feind
Highways und fragte sich wohl zum zwanzigsten Mal, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, dass sie nicht ihren, sondern Rapps Wagen nehmen würden. Doch an diesem Punkt konnte er ohnehin nichts anderes tun als abzuwarten. Gould stellte den Motor ab und holte sich in dem Starbucks-Café einen schwarzen Kaffee. Er hoffte, dass er nicht allzu lange würde warten müssen – und tatsächlich verriet ihm schon um 06:31 Uhr ein Piepton, dass sich das Auto in Bewegung gesetzt hatte. Gould stieß einen erleichterten Seufzer aus. Die Sache war bedeutend einfacher, wenn sie stets genau wussten, wo sich Rapp und seine Frau gerade befanden.
Sechs Minuten später brauste der blaue BMW an Gould vorbei. Rapp saß auf dem Beifahrersitz, und seine Frau lenkte den Wagen. Gould fuhr nicht sofort los; es hätte vielleicht verdächtig gewirkt, wenn er zu früh zu dem Haus gekommen wäre. Und so trank er in Ruhe seinen Kaffee, las die Zeitung und verfolgte mithilfe des GPS-Systems die Route von Riellys Auto. Um fünf Minuten vor sieben hielt ihr Wagen beim George Washington University Hospital an. Gould wartete weitere fünfzehn Minuten und trank seinen Kaffee aus, ehe er losfuhr. Nach etwa eineinhalb Kilometern wählte er Claudias Handynummer. Sie meldete sich beim vierten Klingeln.
»Allô.«
Gould musste sich sehr beherrschen, um sie nicht anzuschreien, weil sie schon wieder französisch sprach.
»Wie geht es dir?«, fragte er mit angespannter Stimme.
»Nicht gut«, antwortete sie.
»Dann leg dich wieder hin. Ich wollte dir nur sagen, dass alles gut aussieht. Ich fahre jetzt hin. Ich rufe dich so gegen zehn Uhr wieder an.«
»Okay.«
Gould beendete das Gespräch und packte das Lenkrad fest mit beiden Händen. Claudia war im Moment einfach nicht sie selbst. Je früher er die Sache erledigte, umso besser. Gould überlegte, ob es nur die Schwangerschaft war, die ihr so zusetzte, oder auch die Tatsache, dass sie den Job ganz einfach satthatte. Das erste Anzeichen dafür war ihm schon vor vier Monaten aufgefallen. Nach einer Operation in der Ukraine hatte sie sich betrunken und ihn gefragt, ob er glaube, dass sie in die Hölle kommen würde. Als überzeugter Atheist hatte er ihr geantwortet, dass es keine Hölle gäbe. Sie erwiderte jedoch, dass das nicht stimme, und begann heftig zu schluchzen.
Gould sah jetzt alles ganz deutlich vor sich. Die Schwangerschaft war ihre Gelegenheit, das Ganze hinter sich zu lassen und ihn ebenfalls zum Aufgeben des Jobs zu bewegen. Er zweifelte nicht mehr daran, dass sie einfach aufgehört hatte, die Pille zu nehmen. Im Gegensatz zu ihr hatte Gould keinerlei Schuldgefühle bei dem, was er tat, doch er konnte sie wohl verstehen. Dieser letzte Job war alles, was er wollte. Sieben Stunden – mehr würde er ganz sicher nicht dafür brauchen. Rapp wurde ihm quasi auf dem Silbertablett serviert. Nach der Knieoperation würden seine für gewöhnlich so scharfen Instinkte noch benebelt sein. So eine Chance würde sich wohl nie wieder bieten. Sechs Millionen Dollar, wenn er es richtig anstellte. Insgesamt elf Millionen dafür, dass er einen Menschen tötete. Rapp musste irgendjemanden mächtig verärgert haben, damit der Betreffende eine solche Summe für seinen Tod auslegte. Gould lächelte angesichts der Aussicht auf so viel Geld. Mit diesem finanziellen Polster würden sie wirklich unabhängig sein. Sie konnten leben, wo immer sie wollten, und sich jeden Luxus leisten. Noch ein paar Stunden , sagte er sich, ein paar Stunden volle Konzentration.
Als er zu der Straße kam, in der Rapp wohnte, setzte er die Sonnenbrille auf und fuhr etwas langsamer, so als suche er nach einer bestimmten Adresse. Gould fuhr an einem älteren Paar mit zwei Hunden vorbei, doch sonst war weit und breit niemand zu sehen. Er hoffte, dass es den ganzen Vormittag so ruhig bleiben würde. Er fuhr an Rapps Haus vorbei und weiter bis ans Ende der Straße, wo er kehrtmachte. Es sah wirklich gut aus. Rapps Wagen stand nicht vor dem Haus, also ging Gould davon aus, dass er in der Garage geparkt war.
Er fuhr den Pick-up rückwärts die lange Einfahrt hinauf und hielt vor der Garage an. Gould sprang aus dem Wagen und zog seine Arbeitshandschuhe an, als ein Hund um die Ecke gelaufen kam. Der Hund bellte – doch es war kein aggressives Bellen, wie Gould es oft genug zu hören bekommen hatte; nicht das Bellen eines Hundes, der einem an die Kehle springen wollte. Es klang eher verspielt, sodass Gould einen Handschuh abstreifte und in die
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