Der Feind
griechische Tragödie, während in ihr neues Leben heranwuchs, gezeugt von einem Mann, der gerade eine schwangere Frau getötet hatte und nicht die geringste Reue darüber empfand. Diese Roheit war es, was sie schließlich aus diesem Albtraum aufgeweckt hatte. Sie wusste wenigstens, dass sie Fehler begangen hatte, doch dass er nicht das geringste Unrechtsbewusstsein aufbrachte, war schlichtweg abstoßend. Nach all den Jahren, die sie ihn nun geliebt hatte, verwandelte sich Louie in ihren Augen in ein Monster.
Sie wagte nicht einmal daran zu denken, welches Schicksal die Götter für sie und ihr ungeborenes Kind bereithielten.
Sie wusste jedoch, dass sie zumindest versuchen musste, etwas gutzumachen. Die Vergangenheit konnte sie nicht mehr ändern, doch sie konnte sich bemühen, manches zu korrigieren. Sie bezweifelte, dass sie ihre eigene Schuld tilgen konnte, aber vielleicht vermochte sie wenigstens ihrem Baby eine bessere Zukunft zu sichern. Sie konnte Anna Rielley und ihr totes Baby nicht wieder zum Leben erwecken, aber sie konnte bereuen und vielleicht das eine oder andere wiedergutmachen. Claudia wusste jedenfalls mit unumstößlicher Gewissheit, was sie zu tun hatte.
Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, stand auf und ging ins Wohnzimmer hinüber, um sich wieder an den Computer zu setzen. Es waren zwei weitere Nachrichten von Abel gekommen, die sie rasch las. Es handelte sich im Wesentlichen um etwas zornigere Versionen der Botschaften, die er ihr bereits geschickt hatte. Abel wollte, dass sie das Geld zurückgaben oder die Sache zu Ende brachten. Wenn sie nichts dergleichen taten, würde er sie bis ans Ende der Welt verfolgen und aufspüren. Der Deutsche konnte von Glück sagen, dass Louie nicht da war. Hätte er nämlich diese Nachrichten gelesen, so wäre er möglicherweise in die nächste Maschine nach Europa gestiegen, um Abel zu töten. Claudia hatte bereits beschlossen, dass er sein Geld nicht zurückbekommen würde. Ja, Abel würde sogar noch viel größere Probleme bekommen.
Claudia hatte den E-Mail-Account der betreffenden Person bereits im Laufe des Tages gefunden, was nicht weiter schwierig gewesen war. Sie tippte ganz einfach den Namen ein und fügte @cia.gov hinzu. Beim ersten Versuch klappte es noch nicht, deshalb fügte sie einen Punkt zwischen dem Vor- und Nachnamen ein, worauf sie sofort durchkam. Sie holte tief Luft und begann schließlich zu tippen. Claudia arbeitete fast eine Stunde an der Nachricht und löschte dann fast alles, was sie bis dahin geschrieben hatte. Nein, sie musste die Sache langsam angehen, mit einer einfachen Entschuldigung, und dann sehen, was sich ergab.
Als es ans Abschicken der Nachricht ging, zögerte sie jedoch, worauf ihr die leise innere Stimme, die sie so lange ignoriert hatte, sagte, dass sie es tun sollte. Mit einem Mausklick schickte sie die Nachricht auf den Weg, und der Laptop piepte. Die Worte MESSAGE SENT erschienen auf dem Bildschirm, und sie wusste, dass es kein Zurück mehr gab.
60
CAMP DAVID, MARYLAND
»Was soll das heißen – er ist weg?«, fragte Ross empört.
Irene Kennedy sah ihm in die Augen und ermahnte sich, ruhig zu bleiben. »Er ist weg, Mark.«
»Das habe ich gehört«, erwiderte Ross und hob die Hände, als wolle er jemanden erwürgen. »Wie zum Teufel ist er so einfach verschwunden?«
»Vielleicht sollten wir auf den Präsidenten warten«, entgegnete Kennedy betont ruhig. Sie wollte sich nicht wiederholen, und sie war überzeugt, dass Ross sich mehr zurückhalten würde, wenn sein Chef anwesend war.
Es war Sonntagnachmittag, und Ross kam gerade vom Golfspielen mit dem Präsidenten, dem Parteivorsitzenden und einem der wichtigsten Spendensammler der Partei. Irene Kennedy hatte irgendwann nach dem Angriff kurz überlegt, ob sie den Präsidenten anrufen solle, doch es war bereits Mitternacht, und sie hatte es sich zur Regel gemacht, den Schlaf des Präsidenten nur zu stören, wenn er eine Entscheidung treffen musste. Sie hatte auch kurz daran gedacht, Ross anzurufen, doch nachdem sie sich vorstellen konnte, wie das Gespräch verlaufen würde, kam sie zu dem Schluss, dass es besser war, ihn so lange wie möglich aus dem Spiel zu lassen. Es gab zu viel zu tun, und wenn er informiert war, würde er das Kommando übernehmen wollen.
So hatte sie dann die Sache so lange wie möglich aufgeschoben, und nun war sie hier, um die schlechte Nachricht zu überbringen und mitzuerleben, wie Ross ausflippte. Irene Kennedy hatte kein Auge
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