Der Feind
Strand vor ihrem Balkon liefen, in sein schimmerndes Licht. Das Hotel war schön, es hatte nur sechsunddreißig Zimmer, größtenteils Suiten, von denen man durchwegs eine wunderbare Aussicht auf die stille Bucht hatte. Unter normalen Umständen wäre es ein äußerst romantischer Ort gewesen.
Claudia war noch nie in diesem Hotel gewesen, aber dafür in vielen anderen dieser Art, und immer mit Louie. Allein der Gedanke an ihn trieb ihr erneut Tränen in die Augen. Sie war sich nicht sicher, wie es so weit hatte kommen können, doch sie wusste, dass sie sich noch nie im Leben so allein gefühlt hatte. Und noch nie hatte sie sich dermaßen vor sich selbst geekelt. Sie blickte auf die vergangenen sechs Jahre zurück, mit einer Klarheit, wie man sie nur besaß, wenn man genau wusste, dass alles vorbei war; wenn man sich selbst gesagt hatte, dass es kein Zurück mehr gab. Als sie vor eineinhalb Tagen hierhergekommen war, hatte sie es noch nicht mit dieser Klarheit gewusst, doch die Stille und Einsamkeit hatten in ihr eine völlig neue Entschlossenheit reifen lassen.
Claudia Morrell war von einer sanftmütigen und liebevollen Mutter im katholischen Glauben erzogen worden. Ihr Vater hatte seit jeher dem Militär angehört und nie viel Zeit für seine Frau und seine Kinder gehabt. Claudia wusste jetzt, warum sie diesen extremen Weg eingeschlagen hatte. Vor zehn Jahren hätte sie noch jedem Psychologen ins Gesicht gelacht, der ihr gesagt hätte, dass sie sich mit dem, was sie tat, an ihrem Vater rächen wollte, weil er sie so vernachlässigt hatte. Rückblickend betrachtet war es jedoch offensichtlich. Sie hatte sich schon gegen ihn aufgelehnt, indem sie sich auf eine Romanze mit einem seiner jungen Offiziere einließ. Als ihr Vater versuchte, die Beziehung zunichte zu machen, indem er Louie versetzen ließ, war das der Anfang vom Ende. Es war das Ereignis, das alles andere in Bewegung setzte, da war sie sich inzwischen absolut sicher.
Er hatte ihr den Anstoß gegeben, doch sie selbst war es, die diesen moralisch verwerflichen Weg eingeschlagen hatte. Die Wandlung von der gottesfürchtigen Katholikin zu einer Frau ohne echte Prinzipien war nicht über Nacht vor sich gegangen. Wie bei vielen kriminellen Laufbahnen hatte alles klein angefangen. Zunächst hatte ihre Rolle in der Partnerschaft nur darin bestanden, Geld so zu transferieren, dass es nicht aufgespürt werden konnte.
Doch dabei sollte es nicht bleiben. Sie begann zu ahnen, was Louie wirklich tat. Seine Geheimnistuerei, seine paranoide Vorsicht hatte einen ganz bestimmten Grund. Als sie herausfand, dass er ein Auftragskiller war, machte ihr das erstaunlich wenig aus. Sie nahm an, dass der Grund dafür darin lag, dass auch ihr Vater Männer im Kampf getötet hatte. Und sie fand nicht viel dabei, dass Louie irgendwelche Kapitalistenschweine, korrupte Politiker oder kriminelle Geschäftsleute tötete. Doch mit Mitch Rapp war es etwas anderes. Sie hatte von Anfang an gespürt, dass das nicht richtig war, doch sie hatte nicht entschieden genug dagegen protestiert.
Als sie nun voller Selbstverachtung, aber auch mit einer gewissen Reife auf ihre Entscheidungen zurückblickte, wurde ihr bewusst, dass sie es aufgrund ihrer Erziehung in der Hand gehabt hätte, anders zu werden. Sie wäre von Anfang an in der Lage gewesen, Richtig und Falsch auseinanderzuhalten, doch sie hatte die leise innere Stimme ignoriert, die ihr auf Schritt und Tritt einflüsterte, dass sie das Falsche tat. Sie benutzte ihre Probleme mit ihrem Vater als Vorwand, um die moralischen Prinzipien über Bord zu werfen, die sie in ihrer Kindheit mitbekommen hatte. Und das alles mit der faulen Ausrede, dass ihr Vater ihr nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
Claudia blickte zum Mond hinauf und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Sie empfand nichts als Verachtung für sich selbst. Sie hatte eine so behütete Kindheit gehabt. Ihre Eltern hatten sich gut um sie gekümmert, sie hatten sie nie geschlagen oder auch nur angeschrien. Sie waren noch verheiratet und liebten sich immer noch. Claudia hatte keine Entschuldigung dafür, dass sie so tief gesunken war. Sie hatte diesem Abel von Anfang an nicht getraut, und es war ihr auch sofort klar gewesen, dass es falsch war, Rapp zu ermorden. Doch die traurige Wahrheit war, dass sie für zehn Millionen Dollar bereit gewesen war, auch noch die letzten Reste ihrer Prinzipien zu verkaufen.
Und jetzt stand sie mit Blut an den Händen da, tief verstrickt in diese
Weitere Kostenlose Bücher