Der Feind
es sich vorgestellt hatten, nahmen diese paranoiden Schufte sofort an, dass man sie aufs Kreuz gelegt hatte. Wahrscheinlich war es auch mit dem Türken hier in etwa so gelaufen, wenngleich er es nicht sicher wusste. Um das zu erfahren, hätte er ein paar Fragen stellen müssen, und er hatte es sich zur Grundregel gemacht, nur nach Dingen zu fragen, die er unbedingt wissen musste.
Er und seine Partnerin hatten ein Parabol-Richtmikrofon verwendet, um die Telefongespräche des türkischen Bankers zu belauschen, während er seine Vormittagsspaziergänge unternahm. Der Mann hatte erst gestern gegenüber einem Freund gemeint, dass diese Russen Schwachköpfe wären, dass sie aber sicher nicht so verrückt wären, zu versuchen, ihn hier in London zu töten. Der Killer hatte sich gewundert, dass der Mann es bei derart dummen Ansichten geschafft hatte, überhaupt so lange zu überleben. Der Mann war achtundfünfzig Jahre alt und hatte schon seit über zwanzig Jahren mit Geschäften dieser Art zu tun. Seinen Feind zu unterschätzen war ein schwerer taktischer Fehler, der entweder aus Dummheit oder aus Arroganz begangen wurde.
Er lehnte sich an die Straßenlaterne und blickte auf die Uhr – den Kopf gesenkt, weil oben an der Laterne eine Kamera montiert war. Es war zwanzig Minuten nach zehn. Wie üblich trug er das typische Outfit eines Geschäftsmannes, einen langen schwarzen Trenchcoat und einen Filzhut. Sein schwarzes Haar war blond gefärbt, seine braunen Augen waren mit Spezialkontaktlinsen aufgehellt und außerdem hinter einer Brille mit schwarzer Fassung verborgen. Ein Regenschirm hing an seinem linken Arm, und in der Hand hielt er ein Exemplar der Times. Der Himmel war grau und sah aus, als könnte es jeden Augenblick zu regnen beginnen.
Der Türke war jetzt zwei Tage hintereinander um zehn Uhr vormittags aufgetaucht, um zum St.-James-Park zu spazieren. Während des gesamten Spaziergangs, hin und zurück, telefonierte er mit dem Handy und rauchte dabei eine Zigarette nach der anderen. Er bekam nicht mit, dass er beobachtet wurde, was, wenn man seine Bemerkungen hörte, nicht weiter verwunderlich war. So wie die meisten Leute, die der Killer bisher ausgeschaltet hatte, lebte auch dieser Mann nach ganz bestimmten Gewohnheiten. Er wohnte immer im Hampshire, wenn er nach London kam, und er ging, wenn es das Wetter erlaubte, täglich zum St.-James-Park und danach zurück zum Hotel, um zu Mittag zu essen. Den Nachmittag verbrachte er damit, die Bank aufzusuchen, in der er ein Büro hatte, und anschließend im Brown’s seinen Tee zu trinken.
An diesem Tag brachte offenbar irgendetwas seinen gewohnten Rhythmus durcheinander, und der Killer wurde langsam unruhig. Es war oft ein schmaler Grat zwischen der überstürzten Ausführung eines Auftrags und einem zu langen Hinauszögern, sodass man den richtigen Moment verpasste. Eine lange Überwachungsphase konnte zu Verdruss führen, und man wurde am Ende zögerlich und unentschlossen. Außerdem bestand dann die Gefahr, dass man jemandem auffiel. Andererseits konnte es verheerende Folgen haben, wenn man überhastet zuschlug, ohne noch einen vollständigen Überblick über die taktische Situation zu haben. Man musste sich Karten, Pläne und viele andere Details einprägen, man musste sich mit den verfügbaren Verkehrsmitteln vertraut machen, und man durfte, vor allem hier in London, nie die allgegenwärtigen Sicherheitskameras außer Acht lassen.
Der Killer begann schon zu zweifeln, dass der türkische Banker noch auftauchen würde. Er würde ihn ausschalten müssen, wenn er nach seinem Nachmittagstee herauskam, oder einen Tag warten und ihn morgen im Park töten. Während er die beiden Möglichkeiten gegeneinander abwog, trat der Mann unter dem Vordach des Hotels hervor, und der Portier reichte ihm einen Regenschirm. Es wurden irgendwelche Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht, und der Türke zündete sich eine Zigarette an und machte sich auf den Weg. Der Killer hatte sich diese Phase der Operation gut überlegt. Er befand sich bereits vor seiner Zielperson. Wenn die Polizei das Bildmaterial der Kamera durchsah, würde sie bestimmt nach jemandem suchen, der dem Mann zum Park gefolgt war. Man würde wohl kaum nach jemandem Ausschau halten, der den ganzen Weg zum Park vor ihm gegangen war.
Der Killer hatte außerdem eine Lücke im Netz der Sicherheitskameras entdeckt. Er würde einen etwas anderen Weg zum Park einschlagen und so vermeiden, dass ihn die Kameras erfassten. Der Park
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