Der Feind
und zwei Kinder: Mitch und seinen jüngeren Bruder Steven.
Rapp dachte nicht allzu oft an seinen Vater; es gab jedoch immer wieder Momente, in denen er bedauerte, dass sie sich nie wirklich kennengelernt hatten. Sie hatten nur acht gemeinsame Jahre gehabt, an die Rapp nur sehr vage Erinnerungen hatte. Sein Dad war, so wie die meisten Väter in den Siebzigerjahren, nicht allzu viel zu Hause gewesen. Er war Anwalt und arbeitete oft bis spätabends. Am Samstagvormittag spielte er Golf, und zwar bei jedem Wetter, sodass nur noch der Sonntag für so etwas wie Familienleben übrig blieb. Woran sich Mitch sehr wohl erinnerte, war, dass sein Vater großen Wert auf Disziplin gelegt hatte, dass er aber ein anständiger und gerechter Mensch war. Seine Mutter, eine tief religiöse und stets optimistische Frau, versicherte ihren Söhnen immer wieder, wie verantwortungsbewusst ihr Vater gewesen sei. Als guter Anwalt hatte er auch dafür gesorgt, dass alles wohlgeordnet war, als sein Herz zu schlagen aufhörte. Er hatte eine hohe Lebensversicherung abgeschlossen und zudem einen größeren Betrag für das Studium der Kinder beiseitegelegt. Was das Finanzielle betraf, brauchte sich seine Mutter nie Sorgen zu machen.
Es war nicht oft vorgekommen, dass Mitchs Vater richtig laut wurde – und wenn, dann passierte es nicht ohne Grund, wie etwa, als Steven fast das Haus niedergebrannt hätte, oder ein andermal, als Mitch die Leiter aus der Garage holte und zusammen mit seinem kleinen Bruder aufs Dach kletterte. Mitch sprang und landete in einem Haufen Blätter, was Steven, der nur eineinhalb Jahre jünger, aber viel kleiner war, nicht ganz gelang. Little Stevey, wie er in der ganzen Nachbarschaft genannt wurde, landete auf dem Bürgersteig und brach sich beide Beine.
Dieser Streich trug Mitch eine gehörige Tracht Prügel ein. Es war, soweit er sich erinnern konnte, das einzige Mal, dass ihn sein Vater geschlagen hatte, und er fühlte sich immer noch beschissen, wenn er daran dachte. Nicht, weil sein Dad ihn verprügelt hatte, sondern weil er seinen Vater enttäuscht hatte. Steven war eine Art Wunderkind gewesen. Er war fünf Wochen zu früh zur Welt gekommen und verbrachte die ersten drei Monate seines Lebens im Krankenhaus, als sein Leben an einem seidenen Faden hing. Was seine geistigen Fähigkeiten betraf, war Mitchs kleiner Bruder ein Phänomen, aber körperlich war er ein Zwerg. Mit seiner geringen Größe und seinem blonden Haar unterschied er sich äußerlich extrem von Mitch, der schwarzes Haar und einen relativ dunklen Teint hatte. Wenn Steven in die pralle Sonnen kam, verfärbte sich seine helle Haut binnen fünfzehn Minuten rosarot, wenn er die Sonnencreme vergaß. Während Mitch im Sommer nur Badehose und Shorts trug, lief Steven stets in hellen Kleidern herum oder hielt sich überhaupt nur im Schatten auf. Mitch war nach seinem Vater geraten und Steven nach ihrer blonden, blauäugigen Mutter.
Rapp blickte zum Baseballfeld hinüber und erinnerte sich daran, wie Steven stets die Zahl der Outs und Runs verkündete. Für einen kleinen Jungen hatte er eine ungewöhnlich tiefe Stimme, die er auch entsprechend einzusetzen wusste. Das kleine Genie konnte schon damals hervorragend mit Zahlen umgehen. Weil niemand ihn im Team haben wollte, übernahm er die Rolle eines neutralen Fängers und Scorekeepers. Er war für diesen Job nicht nur deshalb der Richtige, weil er stets den richtigen Spielstand wusste, sondern auch, weil er unfähig war, zu lügen. Wenn er über den Spielverlauf wachte, ging es immer gerecht zu.
Auf Mitchs Drängen wurde außerdem beschlossen, dass Stevey den Runner nicht zu berühren brauchte. Er musste nur den Ball fangen und das Mal berühren. Auf diese Weise konnte er nicht mit Jungen in Kontakt kommen, die doppelt so groß waren wie er. In jenem Sommer ging auch alles gut, bis Bert Duser, ein dicker Rüpel, der gern Schwächere drangsalierte, beschloss, den zierlich gebauten neutralen Fänger niederzuwalzen. Mitch hatte einen Flugball im Centerfield gefangen, und Duser, ein sehr langsamer Läufer, sah, dass er unmöglich vor dem Ball am Base sein konnte. Den Frust darüber, dass er out war, beschloss er nun offenbar an dem kleinen Stevey auszulassen, den er mit dem Ellbogen voraus rammte. Rapp erinnerte sich noch gut, wie sein kleiner blonder Bruder von den Beinen gerissen wurde.
Was als Nächstes geschah, erzählte man sich noch lange in der Nachbarschaft. Mitch war damals zehn, Duser zwölf Jahre alt.
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