Der Feind
Duser war einen halben Kopf größer und bestimmt zehn Kilo schwerer als Mitch. Niemand hatte es bis dahin gewagt, sich mit ihm anzulegen, aber an jenem Sommertag spielte das keine Rolle. Als sein Vater starb, schwor sich Mitch, seinen kleinen Bruder zu beschützen. Von blinder Wut gepackt, lief er mit lautem Gebrüll los und streifte unterwegs die Handschuhe ab, wie man ihm später erzählte, nachdem es ihm selbst gar nicht bewusst gewesen war. Woran er sich sehr wohl erinnerte, war, dass er auf Duser zuschoss wie eine Rakete. Danach flogen die Fäuste – die von Mitch wohlgemerkt –, und es floss Blut, aber ausschließlich das von Duser.
Das Ganze endete damit, dass Duser heulend nach Hause lief und Mitch eine Standpauke zu hören bekam, als Mrs. Duser mit ihrem blutüberströmten Sohn im Haus der Familie Rapp erschien. Mitch sagte nicht viel zu seiner Rechtfertigung, doch er konnte sich erinnern, dass er seiner Mutter in nicht sehr netten Worten zu verstehen gab, was sein Vater dieser Mrs. Duser erzählt hätte. Seine im evangelischen Glauben aufgewachsene Mom war dafür jedoch viel zu christlich und hätte noch eher die andere Wange hingehalten, wenn sie geschlagen wurde, als selbst zurückzuschlagen. Sein katholischer Dad lebte eher nach dem Prinzip »Auge um Auge«. Mom hielt sich an das Neue Testament, während Dad ein Anhänger des Alten Testaments war. Mitch stand eindeutig mehr auf der Seite seines Vaters, und um einer ungerechten Strafe zu entgehen, zog er es vor, von zu Hause abzuhauen. Am nächsten Morgen fand ihn ein Sheriff-Stellvertreter von Fairfax County im Turkey Run Park, wo er geschlafen hatte, und brachte Mitch nach Hause. Als er sah, was seine Mutter wegen ihm durchgemacht hatte, schämte er sich so sehr, dass er brav zu Hause blieb, bis er mit der Highschool fertig war.
Rapp schüttelte den Kopf. An jenem Tag hatte alles angefangen. Es war das erste Mal gewesen, dass er wirklich gekämpft und sich gegen ungerechte Macht aufgelehnt hatte. Er fragte sich kurz, ob aus Duser wohl ein anständiger Kerl geworden oder ob er immer noch ein Arschloch war. Rapp blickte zu den Feldern hinüber, auf denen er Football und Lacrosse spielen gelernt hatte. Dort hatte er auch zum ersten Mal Maureen »the Dream« Eliot gesehen. Er verliebte sich bis über beide Ohren in sie, und sie war auch der Grund, warum er ein Lacrosse-Stipendium an der Syracuse University annahm und nicht das Stipendium, das ihm von der University of North Carolina angeboten wurde. Maureen wollte zum Fernsehen, und dafür war Syracuse das beste Sprungbrett. Rückblickend betrachtet mochte es vielleicht naiv erscheinen, aber damals glaubten sie beide wirklich fest daran, dass sie eines Tages heiraten würden. Sie hätten es wohl auch getan, wenn nicht am 21. Dezember 1988 eine PanAm-Maschine mit 259 Passagieren an Bord auf dem Rückflug nach Amerika einem Terroranschlag zum Opfer gefallen und über der schottischen Ortschaft Lockerbie abgestürzt wäre. Maureen war eine von fünfunddreißig Studierenden gewesen, die mit dieser Maschine von einem Auslandssemester zurückkehren wollten. Was Rapp damals nicht wusste, war, wie grundlegend dieser Terroranschlag sein Leben verändern sollte.
Vielleicht hatte es sich auch schon vorher geändert, als er Maureen mit fünfzehn zum ersten Mal sah, oder zuvor, als er die Genugtuung darüber verspürte, einen Kerl zu verprügeln, der es wirklich verdiente. Es war seltsam, nun hier zu stehen und in seine Jugend zurückzublicken – auf die Entscheidungen, die er damals getroffen hatte und die ihn dorthin geführt hatten, wo er heute war. Er fragte sich, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wenn er Maureen nie getroffen und sich in sie verliebt hätte. Nach der Katastrophe hatte er Gott immer wieder gefragt: »Warum hat sie den Flug nicht verpassen können?« Sie hatte bis zu jenem schwarzen Tag so viele Entscheidungen getroffen. Wenn sie doch in Syracuse geblieben wäre, anstatt ein Semester im Ausland zu verbringen. Wenn sie doch irgendwo anders hingegangen wären, um zu studieren. Er hatte das getan, was Menschen immer tun, wenn sie von einer so unerwarteten Tragödie heimgesucht werden. Er hatte gefragt, warum alles so hatte kommen müssen.
Fast ein Jahr später wandte sich jemand an ihn, der ihm einen völlig anderen Blick auf die Katastrophe eröffnete. Eine Frau aus Washington besuchte ihn und fragte ihn schließlich nach einem langen Gespräch: »Was wäre, wenn es jemanden gegeben hätte,
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