Der feine Unterschied
zwischen dem VfB und dem FC Bayern. Was jetzt kommt, muss in München verhandelt werden, am besten beim Chefmedizinmann persönlich.
Dr. Müller-Wohlfahrt zögert nicht lange mit seinem Ratschlag.
»Wir machen einen Termin bei Dr. Richard Steadman in Vail«, sagt er. Dort, in Colorado, in 2500 Meter Höhe, werden permanent Spitzensportler operiert, Football-Profis, NBA-
Basketballer, aber auch immer wieder europäische Fußballprofis.
Zwei Tage später sitze ich im Flugzeug nach Amerika. Wie bei der Fußoperation ist auch diesmal Roman an meiner Seite. Er schiebt in Frankfurt meinen Rollstuhl, als wir die Terminals wechseln. Er hilft mir mit dem Gepäck und der Moral. Nicht, dass ich mich auf die OP freuen würde, aber ich bin zuversichtlich.
Die nächsten Monate liegen wie eine Bergwanderung vor mir, und jetzt geht es steil auf den ersten Gipfel zu.
Als ich in Vail ankomme, macht alles einen höchst professionellen Eindruck. Die Klinik, erstklassig. Gut ausgestattete Zimmer, kompetente Menschen. Das ist genau, was ich in dieser Situation brauche.
Im Liveticker verfolgen wir auf dem Laptop die Ergebnisse der letzten Bundesliga-Runde. Der VfB verliert in Stuttgart gegen den FC Bayern sang- und klanglos 1:3 und rutscht von Platz drei auf Platz fünf der Abschlusstabelle ab.
Roman hat einen Übersetzungscomputer dabei. Wir wollen auch die komplizierten Details dessen verstehen, was der Doktor und sein Stab Vorhaben.
Ich liege in einem Einzelzimmer und werde auf die Operation vorbereitet. Zu meiner Überraschung ist mein Knie nicht ruhig gestellt. Es wird von einem Physiotherapeuten permanent bewegt. Gestreckt, gebeugt. Gestreckt, gebeugt.
Der Arzt erklärt mir, warum er diese Maßnahme ergreift. Das Knie, so verstehe ich ihn, habe wie jedes andere Organ eine Art Gedächtnis. Es erinnere sich sozusagen daran, ob es gerade noch bewegt wurde oder ruhig gestellt sei, ob dabei Schmerzen im Spiel gewesen seien oder nicht. Die permanente Bewegung suggeriere dem Gelenk, dass es wie vorgesehen in Verwendung stehe. Das Körpergedächtnis werde von Stressfaktoren wie
Angst und Vorsicht befreit. Nach dem Eingriff, so der Doktor, werde das Knie gleich wieder gebeugt und gestreckt werden. So schalte man unliebsames Sperrfeuer des Gehirns aus und aktiviere die mächtigen Kräfte des Unbewussten.
Die Vorbereitungen auf die Operation dauern drei Tage. Mein Knie wird gebeugt und gestreckt.
Als ich nach dem Eingriff aus der Narkose aufwache, ist das rechte Bein schon wieder in Bewegung. Dr. Steadmans Männer haben mich schlafend ins Bett gelegt und mein Bein in eine Maschine eingespannt, die das Knie bewegt.
Roman steht neben mir und lächelt: »Alles gut gegangen, sagt der Doc.«
Es war tatsächlich nur das Kreuzband verletzt. Meniskus und alle anderen Bestandteile dieses enorm komplizierten Gelenks waren in Ordnung.
Roman schaut ein bisschen sehnsüchtig aus dem Fenster auf die Gipfel der nahen Rocky Mountains. Vermutlich würde er sich gern ein Paar Ski besorgen und sausen gehen, statt permanent an meinem Bett zu wachen. Aber ich bin heilfroh, dass er da ist. Seine Gegenwart bewahrt mich davor, auf dunkle Gedanken zu kommen. Roman ist mein Verbindungsoffizier in die Notwendigkeiten der Wirklichkeit. Gemeinsam entwerfen wir einen genauen Plan für meine Reha-Aktivitäten, für das Tempo, das ich anschlagen will, für die Zeit, wenn wir wieder in Deutschland gelandet sind.
Normalerweise hätte ich mindestens zehn Tage in Vail verbringen müssen, aber nach ein paar Tagen bekomme ich Heimweh. Dr. Steadman ist einverstanden, dass wir den nächsten Flieger nach Frankfurt nehmen, aber er stellt dafür eine Bedingung. Ich darf auf dem zehnstündigen Flug nicht schlafen. Das Knie muss permanent mit Eis gekühlt werden. Außerdem muss ich das Bein hoch lagern und es während des ganzen Fluges bewegen, damit nicht zu viel Blut ins Knie schießen kann und es anschwellen lässt.
Roman besorgt Tickets in der First Class, damit ich auch genug Platz habe, um meine Exerzitien zu absolvieren. Im Handgepäck haben wir eine große Box mit Eis, das wir den Flugbegleiterinnen überlassen. Sie versorgen uns dann regelmäßig mit Lieferungen aus dem Gefrierschrank. Ich glaube, noch nie hat jemand auf einem Transatlantikflug so viel Eis gebraucht, nicht einmal die Rolling Stones in Partylaune.
Normalerweise wäre der Platz in der First Class ideal gewesen, um eine Viertelstunde nach dem Start einzunicken und erholt in Frankfurt aufzuwachen.
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