Der feine Unterschied
Eine Woche später gegen Mainz werde ich in der Halbzeit eingewechselt, und gegen den 1. FC Kaiserslautern stehe ich zum ersten Mal in der Startelf des FC Bayern München. Es ist der 11. Dezember 2005. Noch ein Spiel, und wir werden Herbstmeister sein, aber für mich fängt jetzt erst alles richtig an.
5. Kapitel
KEIN PROBLEM, HERR LAHM
Das Eröffnungsspiel der WM 2006
Enttäuschungen mit Realismus auffangen - Rezepte gegen die Verzweiflung - aus Rückschlägen neue Energie beziehen - die Erleichterung, das Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können
Die Heim-WM 2006 beginnt am 1. März 2006 in Florenz. Standortbestimmung gegen Italien. Ich bin zum ersten Mal nach meiner Knieverletzung wieder dabei und stehe als linker Verteidiger in der Startaufstellung.
»Vergesst nicht, Männer«, sagt der Trainer, bevor wir auflaufen, »in drei Monaten findet das Eröffnungsspiel statt.«
Am 9. Juni um 18.00 Uhr wird die Weltmeisterschaft in Deutschland angepfiffen.
Zehn Minuten später hätte sich jeder von uns gewünscht, dass das Eröffnungsspiel erst in einem Jahr stattfindet. Nach sieben Minuten führt Italien 2:0. Die führen uns vor. Am Ende verlieren wir die Partie 4:1, aber wir hätten auch höher verlieren können. Es war ein Test, klar, aber der ist gründlich in die Hosen gegangen. Wenn wir etwas aus dem Spiel gelernt haben, dann, dass wir den Slogan der WM anders interpretieren müssen. Der Slogan lautet: »Die Welt zu Gast bei Freunden«. Das soll nicht heißen, dass man mit der Deutschen Nationalmannschaft machen darf, was man will.
Die Presse reagiert hysterisch. Die »Bild«-Zeitung montiert
die Gesichter von uns Spielern diesmal auf eine Pizza. Der Titel lautet: »Quattro Gegentori«. Die Innenverteidiger werden als Peperoni gezeigt, weil es im Strafraum dauernd gebrannt hat. Ein Mittelfeldspieler als Thunfisch, weil sein Spiel zum Himmel stank. Ein anderer als Kartoffel, weil sein Spiel unterirdisch war. Ein paar als Salami, weil sie wie eine Wurst gespielt hatten. Ich war eine Ananas, zu süß zu meinen Gegenspielern. Das war echt noch das Harmloseste.
Noch schlimmer, was nach dem Spiel in Florenz passiert. Michael Schumacher, der deutsche Formel-1-Weltmeister, kommt zu uns in die Kabine und schüttelt Hände. Dann nimmt er einen Betreuer zur Seite und flüstert ihm zu: »Das war aber nicht unsere beste Mannschaft, oder?«
Autsch. Wenn so etwas von jemandem wie Schumacher kommt, tut's weh.
Die Stimmung also auf dem Tiefpunkt. Soll das wirklich die Mannschaft sein, die im Sommer um die Weltmeisterschaft spielt? Das hatten wir doch als Ziel ausgegeben: Weltmeister werden.
Kein Trost auch von den deutschen Vereinsmannschaften. Die sind aus allen europäischen Wettbewerben ausgeschieden, spätestens im Viertelfinale. Keiner wettet mehr auf uns. Der allgemeine Tenor lautet: Schade, dass die WM ausgerechnet dann stattfinden muss, wenn wir keine Chance haben. Der Anspruch an die Nationalmannschaft besteht aus einem Flehen der Öffentlichkeit, dass wir sie nicht allzu sehr blamieren sollen.
Natürlich brauchen wir keine Zeitungen, um zu merken, wie weit wir gerade davon entfernt sind, eine Weltklassemannschaft zu sein. Eine Klatsche ist eine Klatsche. Sie schmerzt, aber sie weckt auch auf.
Klar, wir wissen um die stillen Reserven, die wir haben. Ein Freundschaftsspiel ist ein Freundschaftsspiel. Für ein Freundschaftsspiel wird man nie das Letzte aus sich, aus der Mannschaft herausholen. Pflichtspiele führen zu einer ganz anderen Anspannung in Körper und Geist. Sobald es um etwas geht, öffnet ein Spieler das Schloss zu seinen physischen und psychischen Reserven. Die Leidenschaft ist der Schlüssel dazu, aber wahre Leidenschaft kann man nicht simulieren.
Das Phänomen besteht darin, dass wir vor jedem Spiel dasselbe tun, dasselbe denken, denselben Ritualen folgen, um in Wettkampfstimmung zu kommen. Ehrgeizig ist jeder von uns, niemand will auch nur ein Trainingsmatch verlieren. Aber im Fußball geht es um Kleinigkeiten. Die Unterschiede zwischen guten Spielern sind minimal. Sobald du die Handbremse nur einen Hauch angezogen hast, laufen die anderen dir schon um die Ohren.
Wir kommen also zurück nach Deutschland, werden ausgelacht, lesen in den Zeitungen, wie bescheuert wir uns angestellt haben.
Aber wir haken das ab. Jede Klatsche muss abgehakt werden. Du darfst dich mit Niederlagen nicht zu intensiv beschäftigen.
Das klingt hart, geht aber gar nicht anders. Es ist nicht der Job von Profis,
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