Der feine Unterschied
Trübsal zu blasen. Du kommst zurück zum Klub, hast am nächsten Tag Abschlusstraining, dann spielst du schon die nächste Bundesliga-Partie, und alles beginnt von vorn. Wenn du nach vier Wochen noch immer an einer Niederlage leidest, hast du den falschen Beruf.
24 Tage vor der WM-Eröffnung treffen wir uns zur konzentrierten Vorbereitung auf die WM in Frankfurt. Auf dem Programm steht ein Testspiel gegen den FSV Luckenwalde. Die
Amateure haben das Spiel bei einer FIFA-Aktion gewonnen, alle freuen sich unglaublich, gegen uns spielen zu dürfen, und das Carl-Benz-Stadion in Mannheim ist mit 20.000 Zuschauern voll ausverkauft. Nach dem Spiel wollen wir zur weiteren Vorbereitung ins Trainingslager nach Sardinien.
Ein nettes Spiel, unsere Gegner passen enorm auf, wenn sie gegen uns in die Zweikämpfe gehen. Keiner von denen möchte am nächsten Tag als Killer eines Nationalspielers in der Zeitung stehen.
Es steht 4:0, als ich im gegnerischen Sechzehner in ein Dribbling gehe. Der Verteidiger gibt mir einen schüchternen Rempler, der nicht einmal in der Warteschlange vor der Kinokasse auffallen würde, aber ich hebe trotzdem ab und hänge einen Augenblick lang horizontal in der Luft, bevor ich mit dem ganzen Gewicht und der Dynamik eines schnellen Antritts auf meinen linken Arm falle.
Ein Stich, eine Schmerzwelle, die sich von meinem Arm in den Rest des Körpers ausbreitet.
Ich stehe langsam auf und hoffe, dass sich der Schmerz wieder verflüchtigt. Aber das Gegenteil geschieht. Die Schmerzen werden intensiver, konzentrierter. Kein Zweifel, im Arm ist irgendwas kaputtgegangen.
Sofort ins Spital. Auf dem Röntgenbild ist nur zu erkennen, dass der Ellenbogen nicht gebrochen ist. Immerhin. Der Kern-spintomograf ist wegen eines Notfalls besetzt. Ich muss warten. Den Abflug des ganzen Trosses nach Sardinien versäume ich also. Okay, soll nichts Schlimmeres sein. Aber ich habe kein gutes Gefühl. Der Arm tut tierisch weh. Ich bin nervös und deprimiert. Mit einem Arzt und einem Betreuer der Nationalmannschaft bleibe ich in Frankfurt.
Als endlich die Kernspintomografie durchgeführt werden kann, bekomme ich Gewissheit. Ein Teil des Trizeps ist vom Knochen abgerissen. Operation unvermeidlich.
»Doktor«, frage ich fassungslos. »Wie lang dauert das?«
Aber der Doktor kann mir nur die Antwort geben, dass ich einen Gips brauchen werde, und dann komme es auf den Verlauf der Heilung an.
Ich denke an München. Meine Heimatstadt. Mein Stadion. Meine ganze Familie wird in der Allianz-Arena sitzen und jede Menge Freunde. Noch nie musste ich so viele Karten besorgen für Menschen, die ich mag, und vielleicht sitze ich jetzt selbst auf der Tribüne und schaue zu, wie die Deutsche Nationalmannschaft in diese Weltmeisterschaft startet.
Was für eine Scheiße.
Am nächsten Morgen fliege ich nach München. Dr. Müller-Wohlfahrt hat alles vorbereitet, noch am Vormittag werde ich in der Bogenhausener Klinik von Dr. Seebauer operiert, wie schon vor einem Jahr am Mittelfuß. Aber als ich nach der Operation aus der Narkose aufwache, als die Wände meines Zimmers wieder Kontur annehmen und mein erster Gedanke den Schmerzen in meinem Arm gilt, fällt mir der Himmel auf den Kopf.
»Schon wieder«, denke ich mir, und plötzlich sind der Frust und die Mühsal wieder da, die meine letzten beiden Verletzungen begleitet haben, die Traurigkeit ist da, als ich fast ein Jahr lang nicht für die Nationalmannschaft auflaufen konnte, den Confed-Cup in Deutschland versäumte, die Angst ist da, schon wieder etwas ganz Wichtiges zu verpassen, meine WM, bei mir zu Hause, und während ich aus dem Dämmerzustand der Narkose auftauche, merke ich, dass mir die Tränen über die Wangen laufen, und als ich Roman an meinem Bett sitzen sehe, mit besorgtem Gesicht, auch wenn er mir vor allem Zuversicht vermitteln will, heule ich los, heule ich los.
»Warum immer ich, Roman?«
»Geh komm, Philipp«, sagt Roman in seinem beruhigenden, bayrischen Tonfall, »wenn das wer hinkriegt, dann du.«
Ich weiß, was er sagen will. Mut und Zuversicht haben mich immer begleitet, aber im Moment weiß ich gerade nicht, wie sich Mut und Zuversicht anfühlen. Das ist die dritte massive Verletzung in nur eineinhalb Jahren, und ich kann mich nicht gegen den Gedanken wehren, dass mir gerade die Felle davonschwimmen.
Ich schaue mich im Zimmer um und sehe diese traurigen, weißen Krankenhauswände, die ich im Jahr davor zur Genüge angestarrt habe. Ich schaue auf meinen Arm und
Weitere Kostenlose Bücher