Der feine Unterschied
»Klappt schon«, sagt der Trainer.
Jetzt habe ich mir die Situation so oft vorgestellt, dass sie quasi überirdisch geworden ist, etwa so wie George Clooneys Ankunft im Himmel in der Nespresso-Werbung. Der argentinische Schiedsrichter empfängt mich mit einem freundlichen Lächeln, prüft mit einem schnellen Händedruck die Schiene und nickt.
»Ich darf spielen?«, frage ich.
»No problemo«, antwortet der Schiedsrichter.
Wie ich diese beiden Worte liebe.
Ich renne in die Kabine zurück wie ein Kind, das ein neues Fahrrad geschenkt bekommen hat und es seinen Kumpels zeigen will. Erst kurz vor der Tür bremse ich ab, dann gehe ich hinein, und das Lächeln in meinem Gesicht muss so breit gewesen sein, dass ich gar nichts sagen muss.
Es ist 17.02 Uhr. Jetzt ist die WM auch für mich eröffnet.
Die warme Luft, als wir aufs Spielfeld laufen. Das volle Stadion, und das Publikum empfängt uns laut und herzlich. Ich bin so froh, dass ich dabei bin.
Irgendwo da oben auf der Tribüne meine Leute. 1,5 Milliarden Menschen vor dem Fernseher. Wahnsinn.
Mannschaftsfoto. Die Hymnen.
Jürgen Klinsmann hat uns eines eingeschärft: »Wir sind ein Team.« Um die Zusammengehörigkeit dieser Mannschaft zu unterstreichen, stehen wir Arm in Arm nebeneinander, als die Nationalhymne eingespielt wird. Gar nicht so einfach für mich, denn links neben mir steht Christoph Metzelder, der einen ganzen, rechts Arne Friedrich, der mindestens einen halben Kopf größer ist als ich.
Auch die ganze Bank Arm in Arm, Betreuer, Ersatzspieler, Trainer. Klinsmann beschwört die Energie des Kollektivs, und damit hat er recht. Wir haben nicht die stärksten Einzelspieler des Turniers, aber wir haben eine starke Mannschaft. Wo wir stehen, werden wir gleich sehen. Wir spielen gegen Costa Rica, das ist eine lösbare Aufgabe. Aber erst einmal müssen wir gewinnen, und wir werden gewinnen.
Wie immer vor großen, vor außergewöhnlichen Spielen kann ich es nicht erwarten, dass der Schiedsrichter die Partie endlich anpfeift.
Costa Rica hat Anstoß. Das Stadion macht Stimmung. Das Spiel beginnt mit einem Abtasten des Gegners, wir haben es mit Spielern zu tun, von denen wir die meisten nicht kennen.
Nach sechs Minuten sind unsere Stürmer am Strafraum von
Costa Rica. Von Tim Borowski kommt der Ball zu Basti Schweinsteiger, alle Verteidiger stehen in der Mitte, irgendwie kommt der Ball nach links hinaus. Ich stehe fast am Mittelkreis, sehe aber, dass kein Verteidiger dem Ball entschlossen genug nachgeht, und renne los, kriege den Ball zwei Meter vor der Auslinie und kann jetzt entscheiden, ob ich geradeaus gehe und flanke oder ... zwei Verteidiger kommen auf mich zu, ich lege den Ball blitzschnell nach rechts und gehe an ihnen vorbei, der Innere rutscht aus, plötzlich habe ich Platz, bin schon an der Sechzehnerecke, der nächste Verteidiger ist zu weit weg, ich ziehe ab, aufs lange Eck, und erst später im Fernsehen sehe ich, wie der Ball noch Pfosten und Querlatte berührt, bevor er ins Netz springt, aber er ist drin, eins null, jetzt ist da nur Freude, Freude, Freude und eine ungeheuere Erleichterung.
Man sagt, dass Menschen, die in Lebensgefahr sind, ihr Leben wie einen Film vor sich ablaufen sehen. Ich sehe jetzt die letzten drei Wochen im Zeitraffer. Den Sturz in Mannheim, die Kernspintomografie, den Flug nach München, die Operation, Romans Gesicht, die Reha, das Anpassen der Manschette, das Bangen, ob ich spielen kann, die vielen Stunden mit den Physiotherapeuten, das Gesicht des Schiedsrichters, no problem, Mister Lahm. Wie Schlamm, der verkrustet und hart wird, fällt dieser Ballast in diesem Augenblick von mir ab. Ich will jetzt nur zur Bank und den Physiotherapeuten Danke sagen.
Aber das ist ein Hindernislauf. Das Stadion steht Kopf, und meine Mannschaftskollegen schreien dieselbe Erleichterung wie ich in den Sommerabend. Schließlich bin nicht nur ich ins Turnier gestartet, die Mannschaft ist gestartet, die Nation ist gestartet, die Welt zu Gast bei Freunden, und alle wollen mich für einen Moment drücken, ich weiche Torsten Frings aus, der mich am Trikot zerrt, ich mache eine Kurve um Basti, renne hinaus zu unserer Bank, um Danke zu sagen, danke Jungs, von dort kommt mir Timo Hildebrand entgegen, der dritte Torwart, mit dem ich in Stuttgart das Zimmer geteilt habe, und ich springe ihm entgegen und umarme ihn fest, dann kommt Michael Ballack, der das Eröffnungsspiel wegen einer Verletzung verpasst, und ich zeige nur noch den erhobenen
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