Der feine Unterschied
der FIFA angefragt, ob ich mit meiner Schiene überhaupt spielen darf. Aber die FIFA gibt diese Entscheidung an den Schiedsrichter des jeweiligen Spiels weiter. Je nachdem, ob der Schiedsrichter findet, dass meine Schiene andere Spieler gefährden könnte oder nicht, wird er über meine Spielberechtigung entscheiden. Und dass ein Schiedsrichter positiv entscheidet, heißt noch lange nicht, dass jeder Schiedsrichter positiv entscheidet.
Am 2. Juni, eine Woche vor dem Eröffnungsspiel, steht noch ein letztes Testspiel auf dem Programm. In Mönchengladbach spielen wir gegen Kolumbien. Ich stehe auf meiner Stammposition als linker Verteidiger auf dem Spielbericht. Der Bundestrainer hat jetzt keine Zeit mehr für Experimente, er muss der Formation Spielpraxis geben, auf die er im Turnier zählt. Wenn mich der Schiedsrichter heute nicht auflaufen lässt, dann sieht es traurig aus für das Eröffnungsspiel.
Ich bin so nervös. Erst eine Stunde bevor wir aufs Feld laufen, kann ich dem norwegischen Schiedsrichter meine Schiene zeigen. Wir haben sie umwickelt und gepolstert, mein Arm schaut aus wie der des Michelin-Männchens. Herr Hauge betrachtet das Kunstwerk unserer Physiotherapeuten aufmerksam, betastet es, hebt den Blick, schaut mir ernst in die Augen und macht eine lange Pause. Dann sagt er: »No problem, Mister Lahm.«
Ich wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen, aber ich habe nur einen Arm frei.
Wir gewinnen die Partie 3:0, die Mannschaft präsentiert sich in guter Verfassung, und alle sind zufrieden. Aber ich bin mehr als zufrieden. Ich habe gut ins Spiel gefunden, die Schiene hat mich weniger behindert, als ich befürchtete. Die einzige Sorge, die mich quält, betrifft den Schiedsrichter des Eröffnungsspiels. Wird er genauso entscheiden wie Herr Hauge aus Norwegen? Oder kommt mir auf den letzten Metern zum Eröffnungsspiel in meiner Stadt, in meinem Stadion, vor meinen Leuten, noch die Entscheidung eines Mannes in die Quere, der die Regeln anders auslegt als sein Kollege aus dem Norden?
Wir haben noch einmal zwei Tage frei, bevor wir für die letzte Etappe dieser WM nach Berlin einrücken. Ich liege im Bett und denke an den Schiedsrichter. Ich schaue fern und denke an den Schiedsrichter. Auch wenn ich mit etwas ganz anderem beschäftigt bin, immer wieder denke ich an den Moment, in dem dieser Mann den Daumen heben oder senken wird. Sofort wird mir schlecht. Klar, Nervosität gehört vor einer WM dazu, aber muss es diese Nervosität sein? Ich begreife, in welch angenehmer Situation wir Spieler sind. Sobald wir auf den Platz laufen, können wir agieren, können wir unser Bestes geben. Wir können rennen, Dampf machen, Leidenschaft auf den Platz tragen.
Aber ich muss meinen Arm einem fremden Mann zeigen und darauf warten, ob er mir erlaubt, mitzuspielen. Vor keinem anderen Spiel meines Lebens werde ich je wieder so nervös sein.
Am Tag vor dem Spiel fliegen wir von Berlin nach München. Gespannte Erwartung überall. In den Zeitungen Erleichterung, dass es endlich losgeht. Damit haben die langwierigen Spekulationen, wie wir in das Turnier starten werden, endlich ein Ende.
Transfer zum Stadion. Wie gut ich den Weg kenne, und doch ist die Fahrt außergewöhnlich. Um vier wird die Eröffnungsfeier stattfinden, Bundespräsident, Bundesregierung, viele ehemalige Weltmeister, meine Familie wird im Stadion sein und meine besten Freunde, und dann werde ich dem Schiedsrichter endlich den Arm zeigen können und endlich, endlich wissen, ob ich um 18 Uhr auf dem Rasen stehe oder nicht. In-zwischen kenne ich den Namen des Mannes. Horacio Elizondo aus Argentinien. Gutes Omen? Schlechtes Omen?
Wir erleben die Eröffnungsfeier in der Kabine der Allianz-Arena auf großen TV-Monitoren mit. Gottschalk. Grönemey-er. Schuhplattler. Um 16.52 Uhr wird die WM von Bundespräsident Horst Köhler für eröffnet erklärt.
Wir ziehen uns um. Wir tragen den traditionellen schwarzweißen Dress der Deutschen Fußballnationalmannschaft. Viele der Jungs wählen die Trikots mit den kurzen Ärmeln. Ich schnalle meine Schiene fest und umwickle sie mit Stoff und verstecke sie anschließend unter langen Ärmeln, obwohl es draußen angenehm warm ist.
Einer unserer Betreuer steckt den Kopf zur Tür herein und ruft nach mir: »Philipp, du kannst kommen. Der Schiedsrichter hat jetzt Zeit für dich.«
Ich habe Angst.
Nicke, kneife noch einmal die Augen zu, atme tief ein und mache mich auf den Weg. Meine Mitspieler folgen mir mit ihren Blicken.
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