Der feine Unterschied
Daumen zu den Physios, die hinten bei der Bank geblieben sind, ich sehe sie lachen, ich sehe sie strahlen, und ich weiß, dass sie diesen Augenblick genauso genießen wie ich.
Wir gewinnen das Spiel 4:2. Der Anfang ist gemacht. In ein paar Tagen geht es gegen Polen weiter. Ich genieße es sogar, im Regenerationsbecken, das hüfthoch mit Wasser und Eiswürfeln gefüllt ist, damit wir unsere Muskeln entspannen können, zu frieren. So warm ist mir. Im Spiel gegen Polen können wir uns, wenn wir gewinnen, schon vorzeitig fürs Achtelfinale qualifizieren.
Am Tag nach dem Costa-Rica-Spiel spreche ich mit meinem Opa. Der ist fußballnarrisch, meine ganze Familie ist fußballnarrisch, aber der Opa, der mit seinen 78 Jahren im Stadion war, sagt etwas, was mir richtig ans Herz geht: »Mei«, sagt er, »das ist so schön. Dass ich das noch erleben darf.«
6. Kapitel
NIE VERGESSEN WIR DEINEN NAMEN ...
Die WM 2006 in Deutschland
Siege erzwingen — Euphorie in Leistung ummünzen — lernen, die letzte Niederlage zu ertragen - welche Signale ein Arbeitssieg aussendet - wie Feinabstimmung in einer Mannschaft funktioniert — warum Deutschland eine Turniermannschaft ist— wie knapp Triumph und Peinlichkeit beieinanderliegen - Gesten, die Größe zeigen
Als es dann doch noch klappt, als Oliver Neuville die Flanke von David Odonkor rechts am Torhüter der Polen vorbei ins Tor grätscht, als es endlich 1:0 für uns steht, wobei es längst 2:0 oder 3:0 hätte stehen müssen, brechen in Dortmund alle Dämme. Das Westfalenstadion mit seinen steilen Tribünen ist auch bei jedem Bundesligaspiel ein Ereignis an Lautstärke, aber jetzt, in der 90. Minute unseres WM-Gruppenspiels gegen Polen, erreicht der Krach eine andere Dimension. Kampfflieger im Tiefflug stelle ich mir ungefähr so vor, und nicht einen, sondern acht in Formation.
Die Leute brüllen, umarmen einander, flippen schier aus. Auf dem Spielfeld genau das Gleiche. Oli Neuville, der Torschütze, hat Michael Ballack auf dem Rücken, der schreit wie am Spieß, und ich muss quer über das ganze Feld rennen, um meinen Kopf in die Traube von Kameraden zu bohren, mir auf die Schultern klopfen zu lassen, andere Schultern zu klopfen, in Bewegung zu bleiben, zu hüpfen, zu feiern.
Wir haben gut gespielt, allein Miro Klose hätte vier Tore machen können, aber der polnische Torwart war in Superverfassung, und wir hatten Pech. Es ist gerade eine Minute her, dass Miro eine Flanke von mir an die Latte geköpft hat, Michael Ballack erwischte den Abpraller und setzte ihn gleich noch einmal an die Latte, und es sah endgültig so aus, als sollte es heute nicht sein.
Aber wir geben nicht auf. Wir wollen diesen Sieg. Wenn wir die Polen schlagen, sind wir fix fürs Achtelfinale qualifiziert, und wenn wir einmal im Achtelfinale stehen, ist alles möglich.
Der Ball kommt rechts hinaus zu Odonkor. Schneller Antritt, Flanke, Neuville, eins null.
Für mich ist das dieser außerordentliche, denkwürdige, erlösende Moment, als sich die WM 2006 in das »Sommermärchen« verwandelt, in diese zauberhaften Wochen von Fußball, Sonne und Euphorie.
Dass wir das Tor machen, dass wir dieses Tor doch noch machen, sendet eine kostbare Botschaft aus: Hier geht was. Hier geht auch in der letzten Minute noch was. Plötzlich steht eine brandneue Gewissheit im Raum: Diese Mannschaft ist in der Lage, Reserven freizumachen. Sie ist in der Lage, über sich hinauszuwachsen. Sie macht ihre Tore, wenn nötig, auch zehn Sekunden vor Schluss. Diese Mannschaft muss erst jemand schlagen.
Die Gewissheit, dass wir nicht als Gurkentruppe in die Heim-WM gestartet sind, sorgt für eine Euphorie, wie ich sie noch nie erlebt habe. Schon als wir zurück nach Berlin in unser Quartier fahren, sehen wir Massen von Menschen am Straßenrand, und diese Menschen jubeln uns zu. Autos kommen entgegen, aus deren Fenstern deutsche Flaggen wehen. Wann gab es denn so etwas? Autos mit deutschen Flaggen am Fenster?
Das Eröffnungsspiel gegen Costa Rica war für mich ein besonderes Erlebnis. Das Spiel selbst aber war mäßig genug. Das hatte handfeste Gründe. Die Abwehr mit Arne Friedrich rechts, Per Mertesacker und Christoph Metzelder in der Mitte und mir auf der linken Seite hatte noch kaum je in dieser Formation zusammengespielt, und uns fehlte neben der Spielpraxis auch der taktische Feinschliff und wirkliche Wettkampfhärte. Costa Rica hatte mit einfachsten Mitteln zwei Tore gegen uns gemacht, weil wir viel zu weit voneinander
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