Der feine Unterschied
oft: so lang wie das ganze Spiel bis dahin sein können, plätschern dahin. Keine Mannschaft bekommt nennenswerte Chancen. Aber dann kommt die 86. Minute.
Die Türken greifen an, und der Fehler, den ich gleich machen werde, nimmt seinen Anfang, als der Angreifer, der rechts im Mittelfeld den Ball führt, nicht attackiert wird, sodass ich ihm den Weg in den Strafraum zumachen muss, ohne mich um den rechten Flügelstürmer der Türken kümmern zu können, Sabri Sarioglu, der heute in Spiellaune ist und mir einige Probleme bereitet hat. Ein kurzer Antritt des Türken zur Mitte, jetzt bin ich schon unter Druck, dann spielt er den Ball nach rechts zu Sabri. Ich muss dem Ball nachlaufen, lege einen kurzen Sprint ein, Sabri ist fast schon an der Grundlinie, legt sich den Ball auf links, als ob er flanken will, flankt aber nicht, deckt den Ball gut mit dem Körper ab, und während ich versuche, den Ball irgendwie ins Aus zu zangeln, legt Sabri den Ball an meinem linken Bein vorbei und tritt selbst rechts an, ich stehe auf dem falschen Fuß und komme ihm nicht mehr nach, mein Tackling kommt zu spät, Sabri kann von der Grundlinie vor das Tor passen, dort steht Semih und spitzelt den Ball an Jens Lehmann vorbei in die kurze Ecke.
Lehmann schaut nicht gut aus, aber ich schaue noch viel schlechter aus. Es gibt immer Eins-zu-eins-Situationen, die man verliert, aber in so einem Spiel zu diesem Zeitpunkt - was für eine Scheiße. Auch wenn eine Anzahl von Fehlern dazu geführt hat, dass Sabri mich austanzen kann, das Tor gehört mir. Jeder hat's gesehen.
Für einen Augenblick schäme ich mich. Ich kniee, die Arme in die Hüften gestemmt, auf dem Spielfeld und starre den Rasen an. Kurz geschnittene Halme, einzelne Löcher im Boden, aufgerissen von den Stollen der Fußballschuhe. Dann spüre ich, wie die Wut in mir aufsteigt, eine wilde Entschlossenheit, den eigenen Fehler wieder auszubügeln, und drei Minuten später bekomme ich die Chance.
Durch unsere Mannschaft ist ein Ruck gegangen. Keiner von uns hat Lust, gegen die Türken in die Verlängerung zu gehen — dafür haben sie in den letzten Spielen zu viel Kampfgeist bewiesen. Wir suchen die Entscheidung, und die Entscheidung findet in der Hälfte der Türken statt. Sie haben sich nach dem Ausgleich hinten reingestellt und wollen das Ergebnis ganz offensichtlich erst mal über die Distanz bringen, um in der Verlängerung wieder zuschlagen zu können oder das etwaige Elfmeterschießen zu gewinnen. Wenn der Gegner so tief steht, ist ein Außenverteidiger gefragt, als zusätzlicher Angreifer Druck zu machen.
Thomas Hitzlsperger am Mittelkreis spielt den Ball nach links hinaus zu mir, ich treibe ihn ein paar Meter, bis ein Türke zu mir aufrückt, dann gehe ich mit kurzem Antritt nach innen, wie so oft von dieser Position, mein Gegenspieler rutscht aus, und ich habe plötzlich freie Sicht in den Strafraum.
Ich spiele den Ball zu Hitzlsperger zurück, der aufgerückt ist, und gehe mit vollem Tempo in die Lücke im Strafraum, bin ganz frei und rufe »Hopp«, meine Chiffre für »Spiel mich an«, Hitzlsperger hört mich, spielt scharf in meinen Laufweg, Basti Schweinsteiger läuft zwei Meter neben mir, auch frei, aber ich sehe, dass ich besser stehe, und schreie »Leo« — den Kurzbefehl für: »Lass ihn durch, Basti« - und Basti lässt ihn durch, der Ball kommt genau auf meinen rechten Fuß, der erste Kontakt zum Ball ist perfekt, Kleinigkeiten, die über den Erfolg einer Torszene entscheiden, ich muss mir den Ball nicht mehr herrichten, kann genau drei Schritte laufen und dann, aus sechs Metern, haue ich ihn rein, und er ist drin, und wir sind vorn ...
Ein Tor zu schießen, ist immer etwas Besonderes. Selbst Stürmer, deren Job es ist, zu treffen, bekommen einen ganz verklärten Blick, wenn sie beschreiben sollen, was sie nach erfolgreichem Abschluss fühlen. Jemand wie ich, der nicht viele Tore schießt, kann da normalerweise nicht mitreden. Aber in dieser Sekunde war der Treffer eine Erlösung, fast etwas Religiöses.
Ich muss die Freude weglaufen, drehe ab, renne über den Platz, reiße an meinem Trikot, weil gerade keiner da ist, den ich drücken oder anpacken kann, renne in die Richtung unserer Bank, wo alle aufgesprungen sind und am Spielfeldrand stehen und jubeln, und jetzt höre ich endlich auch unsere Fans, es sind also doch welche im Stadion, und dann kommt mir Piotr Tro-chowski von der Bank entgegengerannt, und ich pralle voll mit ihm zusammen, aber ich spüre ihn
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