Der feine Unterschied
Xavi wird vom defensiven Mittelfeld nicht attackiert, spielt den Ball zwischen Metzelder und mir in die Tiefe, hinter mir startet Torres.
Eigentlich bin ich vor Torres, sollte also an den Ball kommen, denn Torres ist nicht schneller als ich. Aber ich sehe, dass Jens Lehmann aus dem Tor kommt, und intuitiv nehme ich das Tempo um eine Winzigkeit zurück, da der Torhüter, indem er rauskommt, signalisiert: ich habe den Ball, im selben Augenblick touchiert mich Torres, und ich komme ein wenig aus dem Gleichgewicht, schlingere einen Schritt lang, und schon ist Torres vor mir, vor Jens am Ball und chipt ihn dann sehr geschickt in die lange Ecke, gleich neben den Pfosten.
Wieder sehe ich bei einem Gegentor nicht gut aus, aber wieder ist der Fehler das Resultat vieler Faktoren. Klar, ich hätte voll durchlaufen und den Ball wegschießen müssen. Aber die Irritation mit Jens, der Kontakt zu Torres, die Vermischung dieser scheinbar winzigen Einflüsse, die zum Gegentor führen, und da ist die Tatsache, dass Xavi in unserer Hälfte völlig frei zum Pass kommt, noch gar nicht mitberechnet.
Anders als gegen die Türkei geht kein Ruck durch die Mannschaft. Spanien ist praktisch permanent in Ballbesitz, und wir laufen dem Ball hinterher.
Ein paar Minuten später steige ich in unserem Strafraum zu einem Kopfball hoch. Als ich lande, steigt mir ein Spanier mit voller Wucht auf den Fuß.
Es tut weh, aber anders weh als normalerweise, wenn so etwas im Eifer des Gefechts passiert. Ein Brennen, das nicht abklingt. Aber ich zwinge mich, nicht darauf zu achten. Vor der Pause ein zweites Gegentor und wir können uns die letzte Hoffnung abschminken.
Als ich in der Halbzeit in der Kabine den Schuh öffne, sehe ich, dass der weiße Stutzen voller Blut ist. Ich schäle den Socken
vom Fuß und sehe eine klaffende Wunde. Der Stollen des Gegners hat meinen Fuß aufplatzen lassen.
Der Mannschaftsarzt wird gerufen und schaut sich aufmerksam die Wunde an.
»Doktor, kann ich weiterspielen?«
»Sieht nicht gut aus. Das ist so tief, dass wir es eigentlich nähen müssen.«
Schock.
»Und wenn ich doch weiterspiele?«
»Dann riskierst du eine schwere Verletzung. Wenn dir noch mal einer auf den Fuß steigt, weiß ich nicht, was mit der verklebten Narbe passiert.«
»Wie groß ist das Risiko, Doktor?«
»Zu groß.«
Während der Bundestrainer Marcell Jansen zum Aufwärmen schickt, sitze ich in der Kabine und heule. Schlimmer geht's nicht. Zuerst einen Bock schießen und dann nicht mehr mithelfen können, die Scharte auszuwetzen.
Ein einsamer Moment. Die anderen müssen wieder raus aufs Spielfeld. Ich fische das Handy aus meinem Spind und rufe meine Freundin an, die uns auf der Tribüne die Daumen drückt. Sie erschrickt, als meine Nummer auf ihrem Display aufleuchtet.
»Claudi, ich kann nicht weiterspielen.«
Und während die Kameraden auf das Spielfeld laufen, muss Claudia mir drei Minuten beim Weinen zuhören.
Dann näht der Doktor die Wunde und ich gehe duschen. Es gibt keinen stilleren Ort auf der Welt als die Duschen während eines EM-Finales.
Nachher setze ich mich auf die Bank und sehe mit unseren Auswechselspielern und Betreuern, wie wir keine Chance mehr
auf den Titel bekommen. Die Spanier spielen ihr Spiel nach Belieben, wir haben bloß noch eine halbe Chance, die vom Schiedsrichter noch dazu abgepfiffen wird.
Der euphorische Jubel der Spanier, als das Spiel zu Ende ist: Folter in Reinkultur. Nur ein Mensch, der die Psychologie von Fußballspielern nicht kennt, kann sich diese Preisverleihungs-zeremonie ausgedacht haben. Die unterlegene Mannschaft, die ohnehin schon an ihrer Niederlage zu knabbern hat, darf nicht einmal in der Kabine verschwinden. Statt dessen muss sie in Gesellschaft leiden, demütig die Silbermedaille entgegennehmen, während der Gegner nur darauf wartet, im Anschluss daran beim Feiern die Sau rauslassen zu können.
Bitter, bitter, bitter. Die Niederlage ist bitter. Die Art und Weise, wie sie zustande gekommen ist, ist bitter. Meine Verletzung ist bitter.
Und bitter ist auch, dass mir abends, als die Mannschaft noch gemeinsam was trinken geht, maximal ein Glas Bier erlaubt ist. Mehr hat mir der Mannschaftsarzt verboten, aufgrund der Medikamente, die ich wegen meinem Fuß bekomme.
Es wird trotzdem spät. Nach Mitternacht schimmert da und dort ein bisschen Freude durch den Ärger über unsere Finalniederlage, Freude darüber, dass wir es bis ins Finale geschafft haben, eine Freude, die wir mit 100.000
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