Der feine Unterschied
die Spanier noch ein, zwei gute Konterchancen, die sie vergeben, und dann ist das Spiel aus, und unsere Chance, Weltmeister zu werden, ist vorbei, vergeben, auf Wiedersehen in vier Jahren.
Gleich nach dem Spiel muss ich zum Interview. Während auf dem Spielfeld einzelne Kameraden herumliegen, als hätte sie der Blitz getroffen, muss ich jetzt vor der Kamera auf die Frage antworten, wie groß meine Enttäuschung ist.
»Groß natürlich«, sage ich, während ich ein paar Phrasen loswerde — »wir haben uns heute viel vorgenommen« - »das ist uns nicht gelungen« steigt mir das Blut in die Wangen, und ich würde wahnsinnig gern irgendwo um die Ecke gehen, um loslassen zu können, dabei stehe ich jetzt vor dem Auge von ich-weiß-nicht-wie-vielen Fernsehzuschauern, deren Riesentraum gerade genauso geplatzt ist wie meiner, und dann fragt der Interviewer auch noch, ob für mich gerade ein Riesentraum geplatzt ist, und was soll ich jetzt sagen außer, ja, klar, es ist der Traum jedes Fußballers, einmal Weltmeister zu werden, und als er mich nach einer letzten Frage, ob ich jetzt Lust habe auf das Spiel um Platz drei - »nein, keine Lust!« —, entlässt, ist das die einzige Erleichterung, die ich an diesem Abend spüre.
Beim Abendessen hängt eine Glocke des Schweigens über Spielern und Betreuern. Noch kommt die Gewissheit, dass wir ein super Turnier gespielt haben, nicht gegen die Enttäuschung über die Niederlage an, aber vereinzelt melden sich schon ein paar Stimmen mit einem kleinen Witzchen oder einer Bemerkung, die den Weg zurück in die Normalität, ins Morgen und Übermorgen weist.
Toni Kroos sitzt bei uns am Tisch. Niemand spricht ihn auf die vergebene Chance an. Manchmal hat eine Mannschaft zwanzig Chancen und macht kein Tor, manchmal nur eine. Sicher ist, dass niemand lieber das Tor gemacht hätte als Toni selbst.
Tags darauf spüre ich, dass irgendetwas mit mir nicht stimmt. Ich werde krank. Die Anspannung während der vergangenen Wochen ist mit der Niederlage von mir abgefallen, und mit der Anspannung bricht auch mein Immunsystem zusammen. Ich bekomme Fieber, Schüttelfrost, Schmerzen am ganzen Körper. Es ist, als würde sich mein Organismus bei mir darüber beschweren, dass wir die große Chance, in ein WM-Finale einzuziehen, gestern ausgelassen haben.
Es geht nicht nur mir so. Auch der Trainer wird krank, auch Lukas Podolski, Mario Gomez und drei andere Betreuer. Bis vier Stunden vor Anpfiff habe ich dennoch vor, das Spiel um Platz drei gegen Uruguay mitzumachen, aber dann muss ich doch absagen. Von der Tribüne aus sehe ich, wie wir 3:2 gewinnen und wie sich Thomas Müller mit seinem fünften Tor den Titel des WM-Torschützenkönigs sichert.
Immerhin kann ich, warm eingepackt in meinen Trainingsanzug, an der Siegerehrung teilnehmen und die Medaille für den dritten Platz in Empfang nehmen, meine zweite nach 2006.
Tags darauf fliegen wir nach Hause.
Jetzt heißt es gesund werden, denn ich habe etwas Wichtiges vor. In drei Tagen werde ich heiraten.
12. Kapitel
PHILIPP, AB JETZT SIND SIE KAPITÄN
Verantwortung leben: Die Kapitänsfrage
Wie sich Verantwortung anfühlt - unangenehme Wahrheiten ansprechen - Gegenwind aushalten - wie man in der Mannschaft Autorität gewinnt - mannschaftsdienlich spielen - wie man Leistungen bestätigt — Fehler entdecken und ansprechen — sich für die richtige Sache starkmachen
Wir bereiten uns im Mai 2010 in Madrid auf das Champions-League-Finale gegen Inter vor, als eine Nachricht in der Kabine die Runde macht.
»Hast du schon von Balle gehört?«, fragt Andi Ottl.
»Was ist?«, frage ich. Ich weiß natürlich, dass Michael Ballack nach einem Foul im Pokalfinale vom Feld musste, aber ich weiß nicht, wie schwer seine Verletzung ist.
»Innenbandriss«, sagt Andi. »Er fallt für die WM aus.«
Es ist wie verhext. Balle ist nicht der erste Spieler, der unserer Mannschaft in Südafrika fehlen wird. Aber er ist der prominenteste. Sein Gesicht ist das Gesicht unserer Mannschaft. In ganz Deutschland ist Balle plakatiert, manchmal auf ganzen Hausfassaden, als Werbeträger für Firmen und für uns, die Nationalmannschaft. Michael Ballack ist unser Kapitän - der »Ca-pitano«, wie ihn Jürgen Klinsmann immer genannt hat.
Ein Kapitän hat viele Funktionen für eine Mannschaft. Er führt sie aufs Feld und repräsentiert sie gegenüber dem Schieds-richter. Er sorgt auf dem Platz dafür, dass die Anweisungen des Trainers umgesetzt werden. Er steht in der
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