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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Löwen kämpfenden Ritter ohne Rüstung angebracht, ein Symbol ritterlichen Muts. Eingelassene Kamine in den Wänden der Burg gehörten überall zur Ausstattung. Im Gegensatz zu einem einfachen Rauchabzug im Dach stellten diese Kamine einen technischen Fortschritt des 11. Jahrhunderts dar, der es durch die Beheizung einzelner Zimmer ermöglichte, daß sich die Herrschaften aus der Gemeinschaft zurückzogen, die sich in der Haupthalle um das offene Feuer versammelte, sie trennten die Herren von der Gefolgschaft. Die Erfindung erhöhte die Bequemlichkeit, allerdings auf Kosten der sozialen Gemeinschaft. In einem versteckten Winkel des zweiten Stockwerks lag ein kleiner Raum mit einem eigenen Kamin, vielleicht ein Boudoir für die Dame des Hauses. Von hier aus hatte sie einen weiten Blick über das Tal mit seinen Glockentürmen, die die Dörfer und ihre Baumgruppen überragten, und sie konnte die Leute auf der aufsteigenden Straße kommen und gehen sehen. Abgesehen von diesem winzigen Zimmer lagen alle Räume der Familie Coucy in dem Teil der Burg, der von außen am schwierigsten zu erreichen war.
    Im Jahre 1206 erwarben die Bürger von Amiens, [Ref 13] der stolzen und florierenden Hauptstadt der Picardie, die schon auf eine hundertjährige Stadtgeschichte zurückblicken konnte, einen Teil des Kopfes von Johannes dem Täufer. Um dieser Reliquie einen würdigen Aufbewahrungsort zu geben, beschlossen sie, die mächtigste Kirche Frankreichs zu bauen, »höher als alle Heiligen, höher als alle Könige«. Um 1220 waren die Mittel gesammelt, und das erhabene Gewölbe der Kathedrale strebte gen Himmel. In derselben Zeit erbaute Enguerrand III. neben dem Hauptturm auch eine Kapelle, die größer war als die Heilige Kapelle, die Ludwig der Heilige ein paar Jahre später in Paris bauen sollte. Sie war reich geschmückt mit Malereien und Schnitzwerk, mit prachtvollen Gewölben und goldenen Verzierungen. Ihr Prunkstück aber waren die Glasmalereien der Fenster, die so schön waren, daß der größte Sammler des folgenden Jahrhunderts, Johann, Herzog von Berry, sie für 12 000 Goldécus zu erwerben trachtete.

    Enguerrand war jetzt Feudalherr von St. Gobain, von Assis, von Marle, von La Fère, von Folembray, von Montmirail, von Oisy, von Crevecœur, von La Ferté-Aucoul und La Ferté-Gauche, Großherzog von Meaux und Burgvogt von Cambrai. Vor langer Zeit schon, 1095, hatte die Krone die Lehenshoheit über Coucy von der Kirche übernommen, und nur dem König schuldete der Burgherr Treue. Während des 12. und 13. Jahrhunderts prägten der Burgherr von Coucy und der Bischof von Laon ihre eigenen Münzen. Nach der Zahl der Ritter, die die königlichen Vasallen im Kriegsfall dem König stellen mußten, war Coucy zu dieser Zeit die größte Baronie Frankreichs und rangierte unmittelbar nach den großen Herzogtümern und Grafschaften, die bis auf die Gefolgschaft, die sie dem französischen König leisten mußten, praktisch unabhängige Fürstentümer waren. Nach einem Dokument von 1216 mußte Coucy 30 Ritter stellen im Vergleich zu 34, die das Herzogtum Anjou aufbringen mußte, und den 36 bzw. 47 Rittern des Herzogs der Bretagne und des Grafen von Flandern. [Ref 14]
    Enguerrand III. starb 1242 ungefähr sechzigjährig, als sein eigenes Schwert ihn bei einem schweren Sturz vom Pferd durchbohrte. Sein ältester Sohn und Nachfolger, Raoul II., starb kurz darauf während jenes unglücklichen Kreuzzugs des heiligen Ludwig in Ägypten. An seine Stelle trat sein Bruder Enguerrand IV., eine Art mittelalterlicher Caligula, der durch eines seiner Verbrechen zum Veranlasser eines großen Fortschritts in der Sozialgesetzgebung seiner Zeit wurde.
    Als er in seinen Wäldern einmal drei junge Edelleute aus Laon aufgriff, die zwar mit Pfeil und Bogen ausgerüstet waren, aber keine Hunde hatten, um größerem Wild nachzustellen, ließ Enguerrand sie ohne weiteres Verhör und ohne Prozeß sofort aufhängen. Da aber König Ludwig IX. ein Herrscher war, dessen Amtsführung seiner Frömmigkeit entsprach, war es nicht länger selbstverständlich, daß solche Delikte ungesühnt blieben. Der König ließ Enguerrand festnehmen, nicht standesgemäß von Adligen, sondern von den »Sergeanten« des Gerichts wie einen gewöhnlichen Verbrecher. Er wurde im Louvre eingekerkert, allerdings aufgrund seines hohen Rangs nicht in Ketten gelegt.
    Bei seiner Verhandlung wurde Enguerrand von den größten
Fürsten des Reiches begleitet, dem König von Navarra, dem Herzog von

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