Der ferne Spiegel
zurückzuführen ist, ein geschälter Baumstamm, wie er von den Galliern zum Bau von Palisaden benutzt wurde. Vier Jahrhunderte lang blieb dieser Ort im Schatten der geschichtlichen Ereignisse, bis dann im Jahre 910 oder 920 Hervé, Erzbischof von Reims, die erste primitive Befestigung auf dem Hügel erbaute, um die Invasion der Normannen in das Tal der Oise einzudämmen. Siedler, die hinter den bischöflichen Mauern Zuflucht suchten, gründeten die obere Stadt, die als Coucy-le-Château bekannt wurde, im Unterschied zu Coucy-la-Ville. In diesen wilden Zeiten war das Gebiet ein ständig umkämpftes Pfand zwischen Erzbischöfen, Baronen und Königen, die alle gleichermaßen kriegerisch waren. Der Kampf gegen die Invasoren, Mauren im Süden und Normannen im Norden, hatte ein Volk von hartgesottenen Kämpfern hervorgebracht, die untereinander ebenso streitlustig wie verteidigungsbereit gegen Außenseiter waren. 975 übergab Oderich, Erzbischof von Reims, das Lehen an einen Mann, der sich Graf von Eudes nannte und der erste Herr von Coucy wurde. Von dieser Person ist nichts bekannt, außer daß sie ihren Nachkommen einen Zug von ungewöhnlicher Stärke und Wildheit vererbte.
Die erste nennenswerte urkundliche Erwähnung des Geschlechts der Coucys war eher religiöser als kriegerischer Art. Es handelte sich um die Gründung der Benediktinerabtei von Nogent am Fuß des Hügels durch Aubry de Coucy im Jahre 1059. Diese Stiftung überschritt das übliche Maß des Dankes für geistliche Fürsprache bei weitem, sollte wohl die Bedeutung des Spenders unterstreichen und die Rettung seiner Seele erkaufen. Ob die anfänglichen Einkünfte der Abtei nun mager waren, wie der Abt Guibert klagte, oder nicht – das Kloster blühte auf und überlebte das aufstrebende Geschlecht der Coucys, das es durch ständige Spenden zunächst am Leben hielt.
Aubrys Nachfolger, Enguerrand I [Ref 9] , war ein skandalumwitterter Mann, der nach Abt Guibert von einer Leidenschaft für Frauen besessen war (der Abt selbst war Opfer seiner unterdrückten Sexualität, wie er in den Confessiones enthüllte). Enguerrand erreichte mit Hilfe eines willfährigen Bischofs, der sein Vetter war, die Scheidung von seiner ersten Frau Adèle de Marle wegen Ehebruchs. Er war einer gewissen Sybil verfallen, der Frau eines Freiherrn aus Lothringen, die er heiratete, während deren Mann im Krieg war und sie selbst nach einer dritten Liaison schwanger war. Von Sybil de Marle sagte man, daß sie eine Frau von liederlicher Moral war.
In dieser unheiligen Familiensituation wuchs der »rasende Wolf«, Sohn der tugendhaften Adèle, auf (so wenigstens nannte ihn ein anderer berühmter Abt, Suger von St. Denis), Thomas de Marle, der berüchtigtste und wildeste der Coucys. Er haßte seinen Vater bitter, weil dieser die Vaterschaft in Zweifel gezogen hatte. Er nahm an dem endlosen Kampf teil, den der ehemalige Mann seiner Mutter Adèle gegen Enguerrand I. begonnen hatte. Diese Privatkriege wurden von den Rittern mit wilder Kampfeslust geführt, sie kannten nur eine einzige Strategie: den Feind dadurch zu bezwingen, daß man so viele Untertanen wie möglich entweder tötete oder verstümmelte, die Ernte vernichtete und Weinberge, Werkzeuge, Scheunen und anderen Besitz zerstörte, um die Einkünfte aus dem Lande zu reduzieren. Aus diesem Grund war die Bauernschaft das Hauptopfer der kriegführenden Parteien. Abt Guibert behauptete, daß in dem »unsinnigen Krieg« Enguerrands gegen den Lothringer den Gefangenen die Augen ausgestochen und die Füße abgeschlagen worden waren. Diese Privatfehden waren der Fluch Europas, und vielleicht sind die Kreuzzüge unbewußt auch deshalb erfunden worden, um ihnen ein Ende zu setzen und den Aggressionen ein anderes Ventil zu öffnen. Im Jahre 1095 folgten sowohl Enguerrand I. als auch sein Sohn Thomas dem großen Aufruf zum Ersten Kreuzzug zur Verteidigung des Heiligen Grabes und trugen ihren Haß aufeinander nach Jerusalem und zurück, ohne jede Verminderung. Das Familienwappen der Coucys leitet sich aus einem Heldenstück dieses Kreuzzugs ab, wobei unklar ist, ob der Ausführende Enguerrand oder Thomas war. Einer von
ihnen wurde von Mohammedanern überfallen, als er und seine fünf Begleiter schon die Rüstung abgelegt hatten. Der Betreffende warf seinen Purpurmantel ab und zerriß ihn in sechs Streifen, die als Banner im Kampfgewühl dienten. So ausgerüstet, fielen die Männer über die Feinde her und vernichteten sie. Zum Gedenken an diese
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