Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
Vom Netzwerk:
Schlachten erschöpften die Reserven, auch wenn die Lasten meist den Städten, Dörfern und Bauern aufgebürdet wurden. Coucy selbst, den das Glück immer begünstigte, war von dieser Last verschont geblieben. Das Lösegeld war ihm erlassen worden, und im Juni 1368 ließ ihm der französische König 1000 Franken überbringen, um ihn für seine Ausgaben als Geisel in England zu entschädigen. Auch Karl V. umwarb den Herrn von Coucy und Soissons.
    Wenn auch die Bindungen zwischen dem Herrn und seinen Untertanen durch die Umstellung der Leibeigenschaft auf die finanzielle Grundlage des Pachtbauerntums geschwächt wurden, so erlaubten die Einkünfte der Pacht den begüterteren Adligen ein aufwendigeres Leben und vor allem mehr Bewegungsfreiheit. Sie brauchten nun nicht mehr unbedingt auf ihren Besitzungen zu leben. Große Hôtels (Stadtschlösser) entstanden in Paris, auf das sich das Interesse des Adels zunehmend konzentrierte. Attraktiver Mittelpunkt des städtischen Lebens wurde die neue Residenz des Königs, St. Pol, ein Gebäudekomplex, der zu einem weitläufigen Palast umgebaut worden war. Er lag am östlichen Rand der Stadt in der Nähe der heutigen Place de la Bastille. Zwölf Säulengänge verbanden die Gebäude und Höfe, es gab sieben Gärten; Skulpturen schmückten die Wege, Löwen wurden in einer Menagerie gehalten und Nachtigallen und Tauben in einem Vogelhaus.
    Karl V. herrschte in einer Zeit des Chaos, aber auch zu solchen
Zeiten gibt es immer unberührte Gegenden voller Schönheit und Frieden, Musik und Tänze, Liebe und Arbeit. Während Rauchwolken bei Tag und der Schein der Flammen bei Nacht Zerstörung und Krieg anzeigen, ist der Himmel über deren Nachbarland klar; während die Schreie gefolterter Gefangener an einem Ort durch die Straßen gellen, zählen im nächsten Bankiers ihre Münzen, und Bauern pflügen hinter friedvollen Ochsen ihre Felder. Chaos in einer Epoche trifft nicht alle Menschen die ganze Zeit, und der Verfall, den die Zerstörung nach sich zieht, setzt sich nur langsam durch.
    Auf Coucys gesellschaftlicher Ebene führten Männer und Frauen ein luxuriöses Leben, jagten und unterhielten sich durch große Gesellschaften. Besonders beliebt war die Beizjagd, viele trugen ihren Lieblingsfalken unter der Haube ständig auf dem Handgelenk, auch im Haus, in der Kirche oder bei Festen. Wenn es nach dem Nachtmahl kein Konzert oder Theaterstück gab, unterhielten sich die Gäste mit Gesprächen oder Liedern. In einem Gesellschaftsspiel schrieben die Teilnehmer mehr oder minder höfliche Verse auf kleine Pergamentrollen, die dann ausgetauscht wurden und vom Empfänger laut vorgelesen werden mußten, was angeblich Aufschlüsse über seinen Charakter zuließ. [Ref 191]
    Reiche Herren ließen ausgetüftelte »Narreteien« anlegen. Graf Robert von Artois hatte im Garten seines Schlosses von Hesdin Statuen, die Spaziergänger überraschend mit Wasser bespuckten, wenn sie an ihnen vorübergingen; eine verborgene Falltür öffnete sich und ließ den Gast in ein Federbett fallen; in manchem Zimmer regnete Wasser oder Schnee auf den Gast, wenn er die Tür öffnete, oder Donner erklang; Wassersprüher benetzten nichtsahnende Damen »von unten«. Als das Schloß in den Besitz Philipps von Burgund überging, stellte er einen Kunsthandwerker ein, um die Vorrichtungen in Ordnung zu halten.
    In der Picardie wurde im Juli und August das Schwanenfest gefeiert, in dem alle drei Stände zusammenkamen, die jungen Schwäne zu jagen, die noch nicht fliegen konnten. Angeführt von der Geistlichkeit, gefolgt vom Adel, den Bürgern und den Gemeinen, fuhr man in Booten auf die Teiche, Flüsse und Seen hinaus, begleitet von Musikern und bei Nacht von Fackelträgern. Den Teilnehmern
war verboten, die Tiere zu töten – es war ein bloßes Vergnügen, an dem alle teilnehmen durften und das mehrere Tage dauerte.
    Da das Leben kollektiv war, gab es in den Häusern von Adel, Bürgertum und Bauernschaft ein intensives gesellschaftliches Leben. Zwei Mahlzeiten am Tag waren für alle Stände das Normale, Mittagessen gegen zehn Uhr vormittags und Abendessen bei Sonnenuntergang. Das Frühstück war unbekannt, außer vielleicht in Form eines Stücks trockenen Brotes und eines Glases Wein, aber auch das galt bereits als Luxus. Prächtige Kleidung war auch durch immer wieder erneuerte Luxusgesetze, die sich besonders gegen die langen spitzen Schuhe richteten, nicht zu unterdrücken. Das Schuhwerk wurde vor den Zehen häufig

Weitere Kostenlose Bücher