Der ferne Spiegel
ausgestopft, damit die Spitzen nach oben zeigten, manchmal wurden sie auch mit Gold-oder Silberkettchen am Knie festgebunden. Diese poulaines verursachten einen trippelnden Gang, der Belustigung erregte und Vorwürfe der Dekadenz auf den Träger zog. Aber die Oberklasse hing hartnäckig an dieser Extravaganz, die Schuhe wurden manchmal sogar aus Samt genäht und mit Perlen oder Gold verziert, und sie wurden in für jeden Fuß unterschiedlichen Farben getragen. Die Jagdmäntel der Damen waren mit Glocken besetzt, und Glocken hingen auch an vielen Gürteln, die ein wichtiger Teil der Kleidung waren, da sie eine Menge Ausrüstung zu tragen hatten: den Geldbeutel, die Schlüssel, das Gebetbuch, den Rosenkranz, eine Reliquie, Handschuhe, die Parfümdose, eine Schere und Nähzeug. Die Unterwäsche bestand aus einem Unterhemd und einer Unterhose aus feinem Leinen; Pelz- und Fellmäntel gehörten zu jedermanns Garderobe.
In der Kirche verließen die Adligen häufig die Messe, sobald sie vorüber war, »ohne auch noch ein Paternoster in den Kirchenmauern zu sagen«. Frömmere führten einen tragbaren Altar auf Reisen mit sich und verteilten Almosen, die ihnen ihre Beichtväter als Buße auferlegt hatten; die Almosen lagen aber im allgemeinen weit unter dem Aufwand für Kleidung oder die Jagd. In den Gottesdiensten mischte sich häufig das Sakrale mit dem Profanen. Wenn die Messe für Herrscher zelebriert wurde – beschwerte sich ein Bischof –, hielten sie oft gleichzeitig Audienz »und beschäftigten
sich mit anderen Dingen und achteten nicht auf den Gottesdienst und die Gebete«. Das Sakrament des Abendmahls, in dem der Christ an Fleisch und Blut Christi teilhatte und so Gnade erlangte, galt als der zentrale Ritus des Christentums und als Voraussetzung für die Erlösung. Umwölkt von der Metaphysik der Transsubstantiation, wurde das Abendmahl in seiner Bedeutung von den Laien kaum erfaßt, man glaubte einfach an die magische Kraft der heiligen Oblate. Wenn man sie auf die Kohlköpfe im Garten legte, sollte sie schädliche Insekten abwehren, und in einen Bienenkorb gelegt, um den Schwarm zu beruhigen, soll sie einmal fromme Bienen dazu gebracht haben, eine ganze Kathedrale aus Wachs mit Bögen, Fenstern, Glockenturm und Altar zu bauen, auf den die Bienen dann die heilige Oblate legten.
Aller Frömmigkeit zum Trotz wurden Beichte und Kommunion, die eigentlich jeden Sonn- und Feiertag wahrgenommen werden sollten, im Durchschnitt kaum mehr als einmal im Jahr zu Ostern beansprucht. Als ein Ritter niederen Adels gefragt wurde, warum er nicht zur Messe ginge, da sie doch für sein Seelenheil so wichtig sei, antwortete er: »Wahrhaftig, ich wußte dies nicht; nein, ich glaubte, die Priester hielten die Messe wegen der Kollekte.« Es ist geschätzt worden, daß zum Beispiel in Nordfrankreich etwa 10 Prozent der Bevölkerung fromme, praktizierende Christen waren, 10 Prozent gleichgültig und der Rest irgendwo zwischen regelmäßigem Kirchgang und seltenem Erscheinen pendelte. [Ref 192]
Im Moment des Todes aber gingen die Menschen des Mittelalters kein Risiko ein: Sie beichteten, zahlten Wiedergutmachungen, beauftragten den Geistlichen mit Gebeten für ihre Seele und beraubten sogar häufig ihre Familien durch Schenkungen an Klöster, Kapellen, Einsiedler und die Finanzierung einer Pilgerfahrt durch einen Stellvertreter.
Nach der Darstellung seiner Biographin Christine de Pisan, der Tochter des Astrologen Thomas von Pisano, war König Karl V. ein Mann von fanatischer Frömmigkeit. Er schlug ein Kreuz, sobald er erwachte, und seine ersten Worte galten dem Gebet. Sobald er gekämmt und gekleidet war, brachte man ihm sein Brevier, und er ging um acht Uhr morgens zur Messe in seine Kapelle. Dann hielt er Audienz für »alle Art Volk, reich und arm, Damen und Jungfrauen,
Witwen und andere«. An bestimmten Tagen saß er dem Kronrat vor und besprach Staatsangelegenheiten. Er lebte bewußt in einer »majestätischen Ordnung«, um die feierliche Würde der Krone zu unterstreichen. Nach dem Mittagsmahl ließ er Spielleute musizieren, »um das Gemüt zu erfreuen«, und empfing dann zwei Stunden lang Botschafter, Fürsten und Ritter, häufig in solchen Massen, daß »man sich in seinen großen Hallen kaum umdrehen konnte«. Er hörte sich Berichte von Schlachten und Abenteuern und Nachrichten aus anderen Ländern an, unterzeichnete Briefe und Dokumente, erteilte Aufträge, vergab und empfing Geschenke. Nach einer Ruhestunde verbrachte er
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