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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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einige Zeit mit der Königin und seinen Kindern – ein Sohn und Erbe war 1368 geboren worden und danach ein zweiter Sohn und zwei Töchter –, besuchte seine Gärten im Sommer, las und studierte im Winter, redete mit seinen engsten Freunden bis zum Abendessen und zog sich nach den Abendunterhaltungen zurück. Er fastete an einem Tag der Woche und las die Bibel jedes Jahr einmal durch.
    Wer immer auch sein wahrer Vater gewesen sein mag – Karl V. teilte in vollem Maße die Leidenschaft der Valois für Besitz und Luxus. Er war bereits dabei, Vincennes zu einem Sommerpalast umbauen zu lassen, und sollte bald darauf noch drei oder vier weitere Schlösser in Auftrag geben. Er beschäftigte den berühmten Koch Taillevent, der gerösteten Schwan und Pfauen anrichtete, die mit all ihren Federn wiederhergestellt worden waren mitsamt vergoldetem Schnabel und in einer passenden Miniaturlandschaft liegend, die aus Zuckerwerk gemacht war. Karl sammelte wertvolle Stücke und juwelenbesetzte Reliquien, darunter eine Windel Christi und eine Flasche mit der Milch der Heiligen Jungfrau, die Dornenkrone und Splitter des wahren Kreuzes. Zur Zeit seines Todes besaß er, sagte man, 47 juwelenbesetzte Goldkronen [Ref 193] und 63 vollständige Sätze Meßgeschirr einschließlich kostbarer liturgischer Bücher und Goldkruzifixe.
    Der König war 1368 dreißig Jahre alt, zwei Jahre älter als Enguerrand de Coucy, bleich, dünn und ernst. Er hatte eine lange gebogene Nase, scharfblickende Augen, dünne, aufeinandergepreßte Lippen, rotblondes Haar. Seine Gefühle waren immer kontrolliert, er behielt seine Gedanken und Ziele für sich, was ihm den Vorwurf,
listig und verschlossen zu sein, eintrug. Er hatte sich von schweren Migräneanfällen, Zahnschmerzen, Darmstörungen und anderen Krankheiten erholt, die ihn während seiner Herrschaft befallen hatten, aber er litt immer noch unter einer Erkrankung – vielleicht Gicht – der rechten Hand oder des rechten Arms, der einen geheimnisvollen Abszeß trug – wahrscheinlich von einer Tuberkulose, von seinen Zeitgenossen aber auf den Giftanschlag Karls von Navarra zurückgeführt. Ein gelehrter Arzt aus Prag, den ihm sein Onkel, der Kaiser, gesandt hatte, behandelte ihn gegen das Gift, sagte ihm aber, daß, wann immer der Abszeß aufhörte zu nässen, Karl nach fünfzehn Tagen sterben würde, was ihm aber ausreichend Zeit ließe, seine Angelegenheiten zu ordnen und sich um sein Seelenheil zu kümmern. Da überrascht es nicht, daß der König ständig in einem Gefühl der Dringlichkeit lebte.
    Auch Karls drei Brüder waren von einer unzähmbaren Besitzgier: Ludwig von Anjou, der älteste der drei, richtete sie auf Geld und ein Königreich; Johann von Berry auf Kunstwerke; Philipp von Burgund auf Macht. Groß, robust und blond wie sein Vater war Ludwig von Anjou eigenwillig, eitel und von unersättlichem Ehrgeiz getrieben. Der sinnliche und vergnügungssüchtige Johann von Berry war ein unermüdlicher Sammler, dessen eckiges, ordinäres, stupsnasiges Gesicht in komischem Gegensatz zu seiner Liebe zur Kunst stand. Philipp hatte Johanns grobe, schwere Züge, war aber intelligenter und von überheblichem Stolz. Jeder der drei stellte seine Interessen über die des Reiches, und alle drei waren von verschwenderischer Großzügigkeit, um ihr Prestige zu erhöhen. Jeder ließ durch seine Patronage ein in seiner Art unübertroffenes Kunstwerk entstehen: die Wandteppichreihe der Apokalypse in Ludwigs, die Très Riches Heures und Belles Heures in Johanns und die Skulpturen des Brunnens Mose und der Trauernden von Claus Sluter in Philipps Fall. [Ref 194]
    Selten wohl hat sich fürstliche Pracht ungehemmter entfaltet als bei zwei Anlässen der Jahre 1368 und 1369, an denen auch Coucy teilnahm. Sein Schwager Lionel, der Herzog von Clarence, ein Witwer von 29 Jahren, kam im April 1368 nach Paris. Er war auf der Reise nach Mailand, wo er Violante Visconti, die dreizehnjährige Tochter von Galeazzo Visconti, heiraten sollte. Begleitet
von einem Gefolge von 457 Personen und 1280 Pferden (die zusätzlichen Tiere trugen wahrscheinlich die Geschenke), wurde er in einer Zimmerflucht einquartiert, die für ihn im Louvre neu hergerichtet worden war. Seine Schwester, die Dame de Coucy, und Enguerrand kamen nach Paris, um ihn zu begrüßen und um an den Festlichkeiten und Ehrungen teilzunehmen, mit denen der König und seine Brüder in den folgenden zwei Tagen ihren früheren Feind überwältigten.
    Ein weiterer

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