Der ferne Spiegel
Entschlossenheit ließ deutlich nach, als Amadeus VI. erkrankte. Von diesem Zeitpunkt an fiel die Offensive unter schweren Regenfällen, über die Ufer gestiegenen Flüssen und ständigen Nadelstichen durch Bernabòs Truppen auseinander.
Als Generalhauptmann eines nun tief entmutigten und desorganisierten Heeres sah Coucy nur noch wenig Zukunft in dem päpstlichen Feldzug. Mit der Begründung, er müsse sich um Frau und Kinder und seine Angelegenheiten in Frankreich kümmern, erbat er vom Papst seine Entlassung, die dieser ihm im Januar 1374 mit vielen Dankbezeigungen freundlich gewährte. Wenn man bedenkt, daß Coucy die Sache des Papstes einfach im Stich ließ, ist diese Freundlichkeit verdächtig und könnte auf einen schweren Bargeldmangel des Papstes hinweisen, der anscheinend nicht in der Lage war, Coucy zu bezahlen. Tatsächlich erhielt er die versprochenen Summen erst viele Jahre später aus der päpstlichen Schatzkammer.
Seine Abreise mag auch durch einen erneuten Ausbruch des Schwarzen Tods in Italien und Südfrankreich beschleunigt worden sein. Unter der Geißel der Pest sank Gregors Kriegsanstrengung in sich zusammen. Durch seine Krankheit entmutigt, schloß Amadeus einen Separatfrieden mit Galeazzo und gab die Interessen des Papstes auf, sobald er seine eigene Sache im Piëmont gesichert wußte. Galeazzo seinerseits, der die destruktive Politik seines Bruders fürchtete, war ebenso bereit, sich von Bernabò zu trennen. Bernabò war angeblich so wutentbrannt über die Versöhnung Galeazzos mit Amadeus, daß er versuchte, seine Schwägerin Blanche ermorden zu lassen. Gezwungen, mit dem Papst vorläufig Frieden zu schließen, sicherte er sich günstige Bedingungen, indem er die päpstlichen Gesandten bestach. Nichts war in diesem Krieg erreicht worden, weil niemand außer dem Papst – der seinen Willen nicht durchsetzen konnte – für eine wirklich fundamentale Sache gestritten hatte; und der Krieg ist ein zu unangenehmes und teures Geschäft, als daß man ihn lange ohne wirklichen Anlaß weiterführen könnte.
Gian Galeazzo, der nun zum zweiten Male eine Niederlage erlebt hatte, übernahm nie wieder das Kommando einer Truppe im Feld. Er wurde ein befähigter Staatsmann, der das Reich der Visconti auf den Gipfel seiner Macht führen sollte. Er verlor seine Frau und einen kleinen Sohn durch Krankheit und blieb ein melancholischer Mann, bedrückt vielleicht auch durch die Unmöglichkeit, ohne Falschheit und Gewalttätigkeit zu regieren. Sein ältester Sohn starb mit zehn Jahren, der zweite mit dreizehn, ihm blieb nur eine angebetete Tochter, auf die ein trauriges Schicksal wartete.
Beim dritten Auftreten der Pest gelang es, die Ansteckung wirkungsvoller unter Kontrolle zu halten, obwohl die Ursachen nach wie vor undurchschaut blieben. Als die Pest in Mailand wütete, befahl Bernabò, jedes Opfer aus der Stadt zu schaffen, auch Kranke, die auf den Feldern außerhalb der Stadt sich selbst überlassen wurden. Jeder, der einen Pestkranken pflegte, kam für zehn Tage in strenge Quarantäne; die Priester mußten ihre Gemeindemitglieder auf Symptome der Krankheit hin überprüfen und die Fälle einer besonderen Kommission melden. Taten sie es nicht, drohte ihnen die Todesstrafe; jeder, der die Pest in die Stadt trug, wurde zum Tode verurteilt, und sein Vermögen wurde eingezogen. Venedig ließ keine Schiffe mehr in den Hafen, die der Pest verdächtig schienen, aber da Floh und Ratte noch nicht als Überträger erkannt waren, fruchteten die Vorsichtsmaßnahmen wenig, obwohl sie in die richtige Richtung wiesen. In Piacenza, wo Coucy den Krieg aufgegeben hatte, starb die Hälfte der Einwohner, und in Pisa, wo die Seuche zwei volle Jahre anhielt, soll sie vier Fünftel der Kinder ausgelöscht haben. Der berühmteste Tote des Jahres 1374 war Petrarca, der im Alter von siebzig starb, nicht an der Pest, sondern friedlich in seinem Lehnstuhl, Kopf und Arme auf einen Stoß Bücher gelegt. Sein alter Freund Boccaccio, bitter und krank, folgte ihm ein Jahr später.
Im Rheinland entstand – nicht im Zusammenhang mit der Pest – eine neue Hysterie in Form des Tanzwahns. Es ist nicht überliefert, ob er aus dem Elend und der Obdachlosigkeit infolge einer großen Überflutung des Rheins im Frühjahr des Jahres 1374 entstand oder ob es sich um ein spontanes Symptom einer verstörten Zeit handelte.
Die Teilnehmer waren überzeugt, daß sie von Dämonen besessen waren. Sie bildeten Kreise in den Straßen und Kirchen,
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