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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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tanzten stundenlang mit Sprüngen und Schreien, riefen die Dämonen an, sie nicht länger zu quälen, oder schrien ihre Visionen von Christus oder der Heiligen Jungfrau hinaus. Wenn sie erschöpft waren, fielen sie zu Boden, rollten stöhnend und zuckend umher, als seien sie in den Fängen böser Geister. Als die Manie sich über Holland und Flandern ausbreitete, schmückten sich die Tänzer mit Blumengirlanden und zogen wie einst die Flagellanten in Prozessionen von Ort zu Ort. Es waren hauptsächlich die Armen – Bauern, Handwerker, Diener und Bettler –, die daran teilnahmen, darunter ein großer Anteil an Frauen, besonders unverheiratete. Sexuelle Ausschweifungen folgten häufig den Tänzen, aber die dominierende Beschäftigung war die Austreibung des Teufels. In den Qualen dieser Zeit empfanden die Menschen das Wirken des Teufels als besonders deutlich, und in ihren Köpfen deutete nichts mehr auf seine dämonische Präsenz als das Tragen von spitzen Schuhen, die in den Predigten der Zeit so oft als Zeichen der Eitelkeit verdammt worden waren. Diese unnatürliche Mode hatte etwas leicht Irrsinniges an sich, das nun in den einfachen Gemütern als Ausdruck teuflischen Wirkens erschien.
    Feindschaft gegen die offizielle Kirche war ein Zug der Tänzer wie ehemals der Flagellanten. In ihrem Eifer, einen Kollektivwahn, der sie bedrohte, zu unterdrücken, führten die Priester so viele Exorzismen durch, wie sie nur konnten. Prozessionen und Messen wurden für die unter dem Wahn Leidenden abgehalten. Die Hysterie schwand noch innerhalb desselben Jahres wieder, brach aber hin und wieder in den nächsten zwei Jahrhunderten neu auf. Was immer ihre Ursache gewesen sein mag, sie deutet auf die wachsende Macht des Irrationalen, die auch der Papst registrierte. Im August 1374 kündigte er das Recht der Inquisition an, in Hexenprozesse einzugreifen, die bisher unter dem Zivilrecht abgehalten worden waren. Da Hexerei und Zauberei aber nur mit Hilfe von Dämonen möglich waren, argumentierte Gregor XI., fielen sie unter die Rechtsprechungsgewalt der Kirche.

     
    Als Coucy in seine Heimat zurückkehrte, fand er ein Frankreich vor, das zum erstenmal in dreißig Jahren den Krieg gegen England zu seinen Gunsten entscheiden zu können schien. Das Land hatte jetzt einen König, der, wenn auch kein Feldherr, ein festes Kriegsziel vor Augen hatte: die Wiedergewinnung der abgetretenen Territorien. Während Coucys Abwesenheit hatte England die meisten dieser Gebiete wieder verloren und darüber hinaus auch seine drei größten Soldaten: Sir John Chandos, den Hauptmann de Buch und den Schwarzen Prinzen. Wenn Coucy nicht durch seine englische Heirat zur Neutralität gezwungen gewesen wäre, hätte er durchaus die führende Rolle auf französischer Seite übernehmen können, die nun mit Du Guesclin besetzt war. Karl V., dessen Politik es nach wie vor war, sich der Unterstützung der mächtigen Barone zu versichern, machte besondere Anstrengungen, Coucy erneut an sich zu binden. Der Titel des Sire de Coucy war nach Aussage von Zeitgenossen genauso »angesehen wie der des Königs oder eines Fürsten«. [Ref 213]
    Sobald Enguerrand zurückgekehrt war, wurde er direkt zum König gerufen, der ein Festmahl für ihn gab und ihn nach den Neuigkeiten über den päpstlichen Krieg ausfragte. Von Paris aus reiste Enguerrand nach Hause, um endlich seine Frau wiederzusehen, »und wenn sie ein großes Wiedersehen feierten, so gab es dafür Grund genug«, nahm Froissart an, »denn sie hatten einander sehr lange nicht gesehen«. Im November 1374 wurde Coucy eine neue bemerkenswerte Ehre zuteil: Karl V. ernannte ihn zum Marschall von Frankreich. Die Insignien des Amtes wurden von einem Ritter unter dem königlichen Banner nach Coucy gebracht. Noch immer unter dem Druck seiner doppelten Bündnispflicht, glaubte Coucy den Marschallstab ablehnen zu müssen. Nichtsdestoweniger setzte ihm der König eine jährliche Pension von 6000 Franken aus, eine erste Zahlung von 1000 Franken traf noch im November ein.
    Coucys hartnäckige Neutralität und seine Entscheidung, nicht an dem Krieg teilzunehmen, sondern Frankreich zu verlassen, schadete seinem Ruf in keiner Weise, im Gegenteil: Sein Verhalten galt als Vorbild der Ehrenhaftigkeit auf beiden Seiten und schützte seine Länder vor englischen Angriffen. Als Knollys Kompanie 1370 die Picardie heimsuchte, »wurde das Land des Herrn von
Coucy in Frieden gelassen, auch gab es keinen Mann und keine Frau, die auch nur um

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