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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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verliehen, und in irdischen Dingen gehörte sie den
weltlichen Instanzen allein. In logischer Stringenz und mit herber Polemik, die es liebte, von den »stinkenden Orden« der Mönche und den »gehörnten Ungeheuern« der Kirchenhierarchie zu sprechen, führten ihn seine Theorien bald zu der radikalen These, daß das Priestertum nicht mehr als notwendiger Vermittler zwischen Menschheit und Gott anerkannt werden sollte.
    Wyclifs besondere Leistung war es, das nationale Interesse und zugleich populäre, weitverbreitete Meinungen auszudrücken. Seit Jahrzehnten führte das Parlament bittere Beschwerde über das Volkseinkommen, das England durch ausländische Herren reicher Kirchengüter wie den hochmütigen Kardinal Talleyrand de Périgord entzogen wurde. Die Summen waren angeblich doppelt so hoch wie das Steueraufkommen für die Krone, und ein Drittel des Königreiches, schätzte man, gehörte der Kirche. Die Immunität der Geistlichkeit gegen das Zivilrecht, die es für einen Laien unmöglich machte, einen Geistlichen zu belangen, war ein weiterer Grund des Antiklerikalismus. Vor allem aber galt der Zorn des Volkes der Unzulänglichkeit der Priester. Wenn ein Priester von seiner Diözese die Erlaubnis, sich eine Konkubine zu halten, kaufen konnte, wie sollte er eher Zugang zu Gott haben als ein einfacher Sünder? Die Lüsternheit der Priester war so groß, daß einem Mann, der einen Ehebruch beichtete, nicht erlaubt war, den Namen der Frau zu nennen, damit der Priester ihre Schwachheit nicht selbst ausnutzen konnte. [Ref 231]
    Die Korruptheit, wenn auch nicht die Lüsternheit, des Gemeindepriesters war gewöhnlich eine Folge der Tatsache, daß er unterbezahlt war, was ihn zwang, die kirchlichen Diensthandlungen zu verkaufen; selbst das Abendmahl konnte dem Kommunikanten vorenthalten werden, wenn er keine Spende anbot – ein Hohn auf das Ritual. Frivolität und Weltlichkeit wurde den Priestern in einem kirchlichen Ermahnungsschreiben von 1367 vorgeworfen; darin hieß es, sie trügen kurze, enge Wämser mit langen pelz-oder seidengefütterten Ärmeln, kostbare Ringe und Gürtel, bestickte Börsen, Messer, die Schwertern ähnelten, farbige Stiefel und sogar jenes Teufelswerk, die langen, gekrümmten, spitzen Schuhe.
    Als Wyclif solche unheiligen Priester schmähte und nachzuweisen
suchte, daß das Priestertum zur Erlösung nicht wesentlich war, zielte dieser Schlag gegen die Grundlagen der Kirche und ihrer Deutung der Rolle Christi. Er steuerte unerbittlich auf die ketzerische Leugnung der Transsubstantiation zu, denn ohne transzendente Macht konnte es dem Priester nicht möglich sein, Brot und Wein in den wahren Körper und das Blut Christi zu verwandeln. Von da aus gesehen, folgte der Rest logisch: die Nichtnotwendigkeit des Papstes, die Ablehnung der Exkommunikation, der Beichte, der Pilgerfahrten, der Reliquienverehrung und der Heiligen, der Ablässe und käuflichen Absolutionen. All dies sollte von Wyclifs Besen beiseite gefegt werden.
    Als Ersatz bot er die Bibel in englischer Sprache an. Sie war von seinen Jüngern übersetzt worden, auf daß das Volk die Religion ohne den Priester und sein bedeutungsloses lateinisches Kauderwelsch verstehen möge. Keine andere Handlung eines religiösen Reformators sollte tiefer in die tausendjährige Machtstellung der Kirche eingreifen, aber ihre Wirkung lag noch einige Jahre in der Zukunft. In den siebziger Jahren des Jahrhunderts wurde die Reformbewegung vorbereitet durch die »Lollharden«, ein Name, der von den flämischen Mystikern abgeleitet war und ursprünglich »Murmler« bedeutete. Diese sektiererische Bewegung breitete sich zunächst im einfachen Volk und unter der niederen Geistlichkeit aus, sprang dann aber auch auf Ritter und einige mächtige Adlige über, die der Griff der Geistlichkeit nach weltlicher Macht erbitterte. Der Graf von Salisbury ließ alle Standbilder von Heiligen in seiner Kapelle beseitigen und verdiente sich damit den Titel eines »Verächters von Bildern, eines Verhöhners von Sakramenten«, und es gab andere, die die »behüteten Ritter« genannt wurden, weil sie sich weigerten, den Hut zu ziehen, wenn Reliquien durch die Straßen getragen wurden. [Ref 232]
    Wyclifs Ideen und die Bedürfnisse der Krone paßten zusammen wie Schwert und Scheide. Das erklärt die seltsame Allianz, die ihn zum Protegé des Johann von Gaunt machte. Seine Theorie der Enteignung, die postulierte, daß Adlige Ländereien zurückfordern dürften, die ihre Vorfahren der

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