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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Wurzeln zurück, von Eleanore von Aquitanien bis zum Vertrag von Brétigny, und legte die komplizierten legalistischen Fragen dar, durch die der Vertrag für nichtig erklärt worden und der Krieg 1369 erneut ausgebrochen war. Wenn die Rede eine tour de force legaler und historischer Argumentation war, so wurde die Antwort des Kaisers zu einem Meisterstück der kunstvollen Formulierung. Er sprach von Treue und Verwandtschaft, der Tiefe seiner und seines Sohnes Verehrung für den König, erklärte sich für berechtigt, als Verteidiger der Ehre des Königs angesehen zu werden, glaubte tatsächlich, daß man von einer »Allianz« zwischen ihnen beiden sprechen konnte. Dennoch, bei genauerer Untersuchung wird die Substanz seiner Ansprache eher schattenhaft. Wenn schließlich die Rede – und der gesamte
Besuch – auch keine Allianz hervorbrachte, so war vielleicht die imposante verbale Wirkung bereits ein befriedigendes Ergebnis für Karl von Frankreich.
    Der Kaiser reiste über Reims zurück und wurde von Coucy bis an die Grenze des Königreichs geleitet. Er starb kurze Zeit später, im November 1378 – ein Tod, der unter Umständen durch die zeremoniellen Anstrengungen in Frankreich beschleunigt worden war.
    Der denkwürdige Besuch, wenn auch ohne praktische Wirkung, ehrte und erhöhte die französische Krone. Auch wenn die Macht des Königtums undefiniert und die Befugnisse des Kronrats unklar waren, Karls Bewußtsein seiner Rolle war unerschütterlich: Der Wille des Königs allein entschied über das Schicksal des Königtums. Aber der Herrscher stand nicht über dem Gesetz; es war vielmehr seine Pflicht, dem Gesetz Geltung zu verschaffen, denn Gott versagte den Tyrannen Eingang ins Paradies. In der Theorie leitete der König seine Legitimation aus der Zustimmung der Regierten her, wie Johann Gerson, der große Theologe, dem Nachfolger Karls darlegen sollte. Karl wußte nur zu genau, daß der Kult der Monarchie Voraussetzung für die Zustimmung der Untertanen war, und er gab diesem Kult bewußt jeden denkbaren Glanz. Karl V. war zugleich der erste Herrscher, der bewies, daß die Herrschaft »aus den Kabinetten heraus« ausgeübt werden konnte und nicht auf die persönliche Führung auf dem Schlachtfeld angewiesen war. [Ref 248]
     
    Auch im strahlenden Zenit von 1378 war Frankreich nicht frei von Schwierigkeiten. Krieg herrschte wieder in der Bretagne und in der Normandie; Karl von Navarra, nach zwanzig Jahren noch immer giftig wie je, hatte sich wiederum in einer gefährlichen Allianz mit den Engländern verbunden. Ketzerei und Hexerei breiteten sich aus, Ausdruck von Bedürfnissen, die die Kirche unbefriedigt ließ.
    Trotz ihrer immer beherrschenden Stellung gab es niemals eine Zeit, in der die Kirche sich nicht irgendeiner Form des Abweichlertums zu erwehren gehabt hätte. In dem unheilbeladenen 14. Jahrhundert, als Gott den Menschen feindlich gesonnen schien oder zumindest verborgen hinter der kirchlichen Besitzgier, war die Sehnsucht nach Gottesnähe größer denn je, und zugleich waren
seine Vertreter weniger denn je geeignet, sie zu befriedigen. Eine Kirche, die sich vorrangig damit befaßte, in der Lombardei Krieg zu führen, ihre Einkünfte in Avignon zu zählen und um ihre weltliche Macht zu kämpfen, war den geistlichen Bedürfnissen der Völker sehr fern. Die Ordensbewegungen waren der letzte Versuch einer Reform von innen gewesen, und als auch sie der Versuchung des Reichtums und der Macht erlagen, suchten die Sucher nach spiritueller Tröstung diese zunehmend außerhalb der Kirche in den mystischen Sekten.
    Die Anhänger der Sekten waren nicht die einzigen, die sich in dieser apokalyptischen Zeit irrationalen Konzepten verschrieben. Unter dem Eindruck böser und unerklärlicher Ereignisse wandten sich viele überreizte Köpfe der Magie und dem Übernatürlichen zu. Der Inquisitor von Frankreich wandte sich 1374 mit der Frage, ob er die Zauberei verfolgen solle, an den Papst, und Gregor XI. autorisierte ihn, Zauberer und Hexen energisch zu bekämpfen. Seit dem frühen 14. Jahrhundert hatte sich das Papsttum in immer schärferer Form gegen den wachsenden Einfluß der Magie gestellt, besonders unter der aktivistischen Herrschaft Johannes’ XXII. In einer Reihe von Bullen in den 1320er Jahren hatte Papst Johannes die Zauberer mit Ketzern gleichgesetzt und ihre Bestrafung autorisiert, weil sie »einen Pakt mit der Hölle« geschlossen hätten. Er befahl, ihre Bücher über magische Praktiken beschlagnahmen

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