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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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entzücken, zu erstaunen und vollzustopfen. Es standen so viele Fackelträger zwischen den Säulen des Saals, »daß man so gut sehen konnte wie im Tageslicht«. So viele Gänge und Gerichte wurden aufgetragen, daß sie dieses eine Mal »nicht gezählt werden konnten«, zu viele auf jeden Fall für den kränkelnden Ehrengast. Der König hatte bereits auf einen von jeweils zehn Gängen verzichtet, um die Zeit, die der Kaiser an der Tafel sitzen mußte, zu verkürzen, aber dennoch mußte der Gast von etwa dreißig Gerichten kosten, darunter geröstete Kapaune, Rebhühner, Hasenzibet,
Fleisch- und Fischaspik, Lerchenpastete, Rissoles aus Rindermark, schwarzer Pudding und Würste, gewürzter Reis, Zwischengerichte von Schwan, Pfau, Rohrdommel und Reiher, Wildpasteten und Singvögel, Süß- und Salzwasserfisch mit Süßwasserheringssauce »in der Farbe von Pfirsichblüten«, weißer Lauch mit gebratenem Regenpfeifer, Ente mit Schweineinnereien, gefülltes Ferkel, Aal, geschmorte Bohnen – und als Nachspeise Fruchtwaffeln, Birnen, Konfekt, Mispelfrucht, Nüsse und gewürzter Wein.
    Zum Höhepunkt des Banketts gingen alle achthundert Gäste in den Saal des Parlaments hinüber, wo ihnen in einem großen Spektakel die Eroberung Jerusalems im Ersten Kreuzzug vorgespielt wurde. Es war ein Triumph der großen Bühnenkunst des 14. Jahrhunderts. Die Bühnenbildner bauten ganze Seen auf, in denen Galeeren ruderten, Löwen traten auf, und Blumen erblühten auf Wiesen, eine täuschend echt erscheinende Burg verbrannte in der Ferne. Auf einem Bankett, das zu Coucys Zeit ein gewisser Vidame de Chartres gab, öffnete sich die himmelblau bemalte Decke, und die Speisen sanken an Schienen aus den Wolken auf die Tafel herab. Ein künstlicher Sturm, der eine halbe Stunde andauerte, untermalte das Dessert und ließ einen Regen von parfümiertem Wasser und Hagel aus gesüßten Fleischstückchen auf die Gäste niedergehen. [Ref 246]
    In den Mysterienspielen, die für das Volk gegeben wurden, bemühten sich die Bühnenbildner um einen exakten Realismus. Ein System von Gewichten und Drahtverbindungen ließ Jesus aus dem Grab auferstehen und hob ihn in die Wolken. Engel und Teufel erschienen und verschwanden wie durch Magie in Falltüren; die Hölle öffnete und schloß ihr monströses Maul; und Noahs Flut überschwemmte die Bühne, während steingefüllte Fässer in den Kulissen das Geräusch des Donners nachahmten. Wenn Johannes der Täufer enthauptet wurde, ließ sich der Darsteller so blitzartig durch eine Falltür fallen und wurde ebenso schnell durch eine nachgestellte, kopflos blutige Leiche ersetzt, daß das Publikum vor Entsetzen aufschrie. Schauspieler, die Jesus darstellten, hingen manchmal Verse zitierend drei Stunden am Kreuz.
    Wie kein anderes Medium spiegelte die Bühne das mittelalterliche Leben wider. Das Drama, das sich aus liturgischen Darstellungen
vor den Kirchentüren entwickelt hatte, wurde bald von Schauspielergesellschaften aufgenommen, die auf fahrbaren Plattformen bei Paraden und Prozessionen gastierten. Die Gesellschaften reisten mit ihren Stücken von Stadt zu Stadt und zogen alle Schichten der Gesellschaft an – Bauern und Bürger, Mönche und Studenten, Ritter und Damen. Bei einer größeren Aufführung wurde die Bevölkerung einen Tag vorher von Ausrufern informiert. Die Themen waren religiös, aber die Formen der Darstellung ausgesprochen weltlich, auf Unterhaltung ausgerichtet. Jedes Mysterium der christlichen Überlieferung wurde physisch und konkret dargestellt und in die Formen des Alltagslebens gegossen – respektlos, blutig und unflätig. Die Hirten, die bei Nacht Wache hielten, wurden als Viehdiebe dargestellt, das Pathos der Opferung des Isaak bis zum letzten ausgequetscht, als beliebtes komisches Versatzstück diente der Esel, dessen Kot, der unter dem gehobenen Schwanz hervor auf die Bretter fiel, auch dann beim Publikum Freudengeheul auslöste, wenn der Esel Jesus nach Jerusalem hineintrug.
    Sex und Sadismus wurden in der Vergewaltigung der Dina ausgespielt, in der Darstellung des nackten, betrunkenen Noah, der Sünden der Sodomiter und den vielen Spielarten blutigen Märtyrertods. Folterszenen in krassem Realismus waren feste theatralische Elemente, als hätte eine gewalttätige Zeit den Genuß der Gewalt hervorgebracht. Nero, der seiner Mutter den Bauch aufschlitzte, um nachzusehen, woher er gekommen war, wurde mit der Hilfe tierischer Eingeweide in blutrünstigem Detail ausgespielt. Schadenfreude

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