Der ferne Spiegel
hat es nicht nur im Mittelalter gegeben, aber es herrschte in dieser Zeit sicher eine besonders düstere Spielart dieser Haltung vor, vielleicht hervorgebracht durch die Pest und die ihr folgenden Katastrophen.
Sündige Leidenschaften, treulose Gatten, die Qualen des Kindbetts, schwache Nonnen und schwangere Äbtissinnen, ehebrüchige Königinnen, grausame Morde an Kindern – das waren die Stoffe der Spektakel. Mitglieder aller Gesellschaftsschichten – stolze Kardinäle und elende Bettler, der Vogt und die Frau des Schlachters, Juden, Wirte, aufrührerische Studenten, Ritter, Holzschnitzer, Hebammen und Dorfnarren – stellten das Personal. Die Heilige Jungfrau vergibt ihnen allen, selbst der Mutter eines Papstes,
die so hochmütig war, daß sie sich für größer hielt als die Mutter Gottes selbst. Nach angemessener Bestrafung wird auch ihr Gnade gewährt.
Gott trat in den Spielen in weißem Gewand und mit vergoldeter Perücke auf, die Engel hatten vergoldete Flügel, Herodes einen schwarzen Bart und einen Sarazenenmantel, Teufel und Dämonen trugen grauenvolle Masken, Hörner, hatten gespaltene Schwänze und härene Anzüge. Oft liefen sie durchs Publikum, um die Zuschauer zu kneifen und zu erschrecken.
Die Apokalypse, immer im Bewußtsein der Zeit, wurde in einem Spiel vom Jüngsten Tag dargestellt. Der Antichrist erscheint in der ihm zugewiesenen Zeit, traditionell auf dreieinhalb Jahre vor dem Jüngsten Tag festgelegt. Sohn des Satans und einer Frau von Babylon und wohlinstruiert in allen Künsten der Dämonie, gewinnt er solche Macht, daß Könige und Kardinäle sich ihm unterwerfen, bis er bei Armageddon im Triumph des Guten über das Böse überwältigt wird. Die Erlösten werden von den Verdammten getrennt, und die Engel entleeren die Krüge des göttlichen Zorns über die Menschen.
Die Belagerung von Jerusalem, die dem Kaiser vorgespielt wurde, [Ref 247] brach mit dem bis dahin üblichen Themenkreis und präsentierte zum erstenmal die Wiedergabe eines historischen Ereignisses. Ihre technische Virtuosität und der Schwung der dargestellten Schlacht waren atemberaubend. Das Schiff der Kreuzfahrer, vollständig mit Mast, Segel und fliegenden Bannern, wurde den Saal hinuntergeschoben und bewegte sich »so leicht und sanft«, als führe es tatsächlich auf dem Wasser. Ritter, die exakt die Wappen führten, die ihre Vorfahren nach Jerusalem getragen hatten, ergossen sich aus dem Schiff heraus, um die nachgebauten Befestigungen Jerusalems anzugreifen. Von einem gemalten moslemischen Minarett sang ein Muezzin das klagende arabische Gebet. Sarazenen mit Turbanen auf den Köpfen zückten türkische Krummsäbel, Kreuzfahrer wurden von den Sturmleitern heruntergeworfen – die Zuschauer waren hingerissen und durch die Schönheit und Dramatik der Szene für einen neuen Kreuzzug eingestimmt – was tatsächlich auch eine Absicht der Aufführung war. Der führende Propagandist eines neuen Kreuzzugs, Philippe de Mézières, war ein
vom König sehr bewunderter Mann, der zum Mitglied des Thronrats und zum Erzieher des Dauphins ernannt worden war.
Der nächste Tag brachte ein neues Wunder. Ein extra für diese Gelegenheit gebautes Schiff, das wie eine Residenz mit Sälen, Kammern, Kaminen und einem königlichen Bett ausgestattet war, trug die höfische Gesellschaft den Fluß hinunter zum neuen Louvre-Palast. Der Kaiser war sichtlich beeindruckt. Karl V. zeigte ihm die Umbauten, durch die er die alte Festung in einen »wahrhaft königlichen Palast« umgewandelt hatte. Nach dem Essen wurden die Fakultätsmitglieder der Universität dem Kaiser vorgestellt, der eine formelle Ansprache des Universitätskanzlers auf Latein beantwortete.
Karls eigentliche Absicht, die Rechtfertigung seiner Sache gegen England, wurde am folgenden Tag in einer Staatsversammlung, an der fünfzig Köpfe des kaiserlichen Gefolges und etwa ebenso viele führende französische Persönlichkeiten teilnahmen, verwirklicht. Der Chronist schreibt, der König sei »durch die Lügen, die die Engländer in Deutschland verbreiteten«, zu einer Richtigstellung veranlaßt worden, aber im Grunde war Karl wohl ständig auf der Suche nach rechtlicher Absicherung. Er breitete vor seinem Onkel, den er vielleicht als eine Art Vaterfigur ansah, die Konzessionen aus, die er um des Friedens willen angeboten hatte, und bat ihn zu urteilen, ob sie ausreichend gewesen seien.
Karl V. sprach zwei Stunden lang, er führte den Konflikt durch die Jahrhunderte auf seine
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