Der ferne Spiegel
Spiegel der Ideen und geistigen Einflüsse seines Zeitalters.
In früheren Zeiten wäre er wohl ein Mönch geworden, aber in den letzten hundert Jahren hatte die Universität in zunehmendem Maße das Werk der Übermittlung des Wissens von den Klöstern übernommen. Mit vierzehn Jahren trat Gerson in die Universität ein, und er fand Theologie und Philosophie wie versteinert in den trockenen Syllogismen der Scholastiker vor. Im großen Zeitalter Thomas von Aquins hatte es die Scholastik unternommen, alle Fragen des Glaubens in Vernunft und Logik zu beantworten, aber die Vernunft hatte sich als unzureichend erwiesen, Gott und das Universum zu erklären, so daß die große gedankliche Anstrengung erloschen war und nur die harte Schale des logischen Arguments hinterlassen hatte – vorgetragen, wie Petrarca angewidert vermerkte, von »grauhaarigen Kindern«. Er riet jedem zu fliehen, wenn sie begannen, »Syllogismen zu spucken«. Gerson wie andere seiner mühseligen Zeit sehnte sich nach etwas Bedeutungsvollerem und fand es im mystischen Glauben und der unmittelbaren Gemeinschaft mit Gott. [Ref 364]
Er glaubte, daß sich die Gesellschaft nur durch die Rückkehr zu einer tiefen Gläubigkeit erneuern könne, in der »eitle Neugier« keinen Platz hätte. Das Wissen um Gott, schrieb er, »ist eher durch das Gefühl der Reue als durch geistige Forschung zu gewinnen«. Im gleichen Sinne sah er das Übernatürliche als existent an, bekräftigte den Glauben an Dämonen und tadelte jene, die darüber spotteten, um ihren Mangel an Gläubigkeit und die »Krankheit der
Vernunft«. Aber auch Gerson konnte die Vernunft aus seinem Denken nicht ganz heraushalten. Er verachtete die Magie und den Aberglauben der Astrologen und empfahl eine gründliche Untersuchung von Visionen, bevor man ihnen Glauben schenkte.
Er war gegen die Bibel in der Landessprache, aber als Dichter, Lehrer und Redner schrieb er viele seiner Predigten und Abhandlungen auf französisch, um seine Lehre auch einfacheren Geistern und jungen Menschen verständlich zu machen. Mittelalterliche Erzieher verbrachten allgemein viel Zeit damit, Predigten für Kinder zu entwerfen. Besonders Gerson zeigte sich sehr um ihre Entwicklung besorgt, er sah sie, was für seine Zeit ungewöhnlich war, als Kinder und nicht als kleine Erwachsene. In einem Ratgeber für Kirchenschulen schrieb er, daß es notwendig sei, eine Lampe in den Schlafsälen brennen zu lassen, um den jüngsten Kindern ein Symbol des Glaubens vor Augen zu halten, aber auch, um ihnen den Weg zu erleuchten, wenn »die natürliche Notwendigkeit« sie zwänge, während der Nacht aufzustehen. Die Reformation der Kirche, warnte er, müßte mit der rechten Belehrung der Kinder beginnen und die Reform der Universitäten mit der Reform der Grundschulen. [Ref 365]
Er riet den Beichtvätern, in den Kindern ein Gefühl der Schuld in bezug auf ihre sexuellen Gewohnheiten zu erwecken, damit ihnen die Notwendigkeit der Buße deutlich werde. Selbstbefriedigung, selbst ohne Ejakulation, war eine Sünde, »die dem Kind die Jungfräulichkeit raubt, mehr noch, als wäre es im gleichen Alter mit einer Frau gegangen«. Das Fehlen des Schuldgefühls in Kindern in bezug auf die Onanie war nicht zu akzeptieren. Sie dürfen keine groben Gespräche hören, und sie dürfen einander nicht küssen oder streicheln, noch mit Angehörigen des andern Geschlechts in einem Bett liegen, auch nicht mit Erwachsenen des gleichen Geschlechts. Gerson hatte sechs Schwestern, die sich alle entschlossen, in heiliger Jungfräulichkeit unverheiratet zu bleiben. Seine starke Persönlichkeit ist offensichtlich unter einem mächtigen Familieneinfluß geformt worden.
Sex spielte eine wichtige Rolle in Gersons wütender Ablehnung von Jean de Meungs Rosenroman. De Meungs Preislied auf die fleischliche Liebe, seine Satire auf die Keuschheit, seine Inthronisierung
der Vernunft, sein freidenkerischer Skeptizismus, sein antiklerikales Vorurteil – all das war Gerson tief zuwider. Als Christine de Pisan ihren Angriff auf Jean de Meung 1399 in einem Brief an den Gott der Liebe niederschrieb, unterstützte Gerson sie in einer Predigt mit der ganzen Leidenschaft eines Bücherverbrenners. Er brandmarkte den Rosenroman als gefährlich und unmoralisch: Er setzte die Frauen herab und machte das Laster attraktiv. Wenn er das einzige Exemplar auf der Welt hätte, sagte er, und es 100 Pfund wert wäre, er würde nicht zögern, es in die Flammen zu werfen. »Ins Feuer, gute
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