Der ferne Spiegel
Wittelsbach und Habsburg waren einander feindlich gesinnt, die mehr als zwanzig Fürstentümer aufsässig, die Städte schlossen sich in dem Kampf um ihre Privilegien zu Ligen gegen den Adel zusammen. Unter diesen anarchischen Zuständen war es unmöglich, ausreichend Steuern einzuziehen, um eine wirkungsvolle Zentralgewalt zu finanzieren, und die Autorität des Kaisers war zu oberflächlich, um die Einzelinteressen zu kontrollieren.
Wenzel IV. war achtzehn, als er 1378 kurz nach dem denkwürdigen Besuch in Paris den Thron bestieg. Obwohl er von seinem Vater in die Regierungsgeschäfte eingeführt worden war und eine gute Erziehung genossen hatte – er sprach Lateinisch, Französisch, Deutsch und Tschechisch –, besaß er nicht die Persönlichkeit, sich unter solchen Umständen durchzusetzen. Trotz seiner anfänglichen Versuche, ein Gleichgewicht der Kräfte im Reich herzustellen, schufen die unablässigen Fehden zwischen Gruppen und Klassen, zwischen Städten und Fürsten, Kleinadel und Hochadel, Deutschen und Tschechen, Ligen und Bünden eine Atmosphäre der Zwietracht, die jeder Oberherrschaft trotzte und den Herrscher schließlich vernichtete. [Ref 368]
Eine tragische, zerbrochene Gestalt, tritt uns Wenzel aus den Chroniken als eine Art Kaliban – halb Clown, halb Bösewicht – entgegen, wie zusammengesetzt aus den Halbwahrheiten und Legenden, die die Animositäten seiner vielen Feinde widerspiegelten. Da seine Herrschaft die Hussitische Revolte gegen die Kirche und zugleich die Erhebung des tschechischen Nationalismus gegen die Deutschen auslöste, hatte er posthum sowohl unter den geistlichen als auch den deutschen Chronisten sehr zu leiden. Gegen den unfairen Triumph des geschriebenen Wortes über die Realität gibt es
kein Mittel. Aber wenn sie auch übertrieben waren, die Geschichten über Wenzel sind einander zu ähnlich, um nicht einen wahren Kern zu enthalten.
Von seinen Parteigängern immer als gutaussehend und umgänglich beschrieben, erscheint er in den Chroniken meist als ein »wilder Eber«, der in schlechter Gesellschaft wilde nächtliche Gelage feierte, in Bürgerhäuser einbrach, um die Frauen zu vergewaltigen, der seine eigene Frau in einem Bordell leben und einen Koch verbrennen ließ, weil der ihm eine angebrannte Mahlzeit serviert hatte. Nach diesen Schilderungen war er von einem Kesselflicker gezeugt worden, war von Geburt an häßlich und verkrüppelt (seine Mutter starb im Kindbett), beschmutzte das Weihwasser bei seiner Taufe und befleckte den Altar bei seiner Krönung, weil er außerordentlich schwitzte – alles Omina, allerdings wahrscheinlich ex post facto , einer unheiligen Herrschaft. Glücklich war er nur auf der Jagd, er verbrachte Monate in den Wäldern und in Jagdhäusern und vernachlässigte die Regierungsarbeit. Die Gesellschaft von Jagdgenossen und Reitknechten, die er zum Ärger der Barone adelte, war ihm am liebsten. Seine frühen vergeblichen Anstrengungen, Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten, frustrierten ihn, er machte sich durch die Bevorzugung der einen oder anderen Fraktion nur Feinde, seine Irrtümer bestärkten ihn in seinem Gefühl der Unzulänglichkeit, und so wurde er zunehmend unfähig, eine Politik über längere Zeiträume durchzuhalten. Er fand Zuflucht vor dem eigenen Minderwertigkeitsgefühl nur in der Jagd und im Alkohol. [Ref 369]
Auch in Deutschland, wo es durchaus üblich war, daß man sich – egal, welchen gesellschaftlichen Rang man bekleidete – unter den Tisch trank, verdiente sich Wenzel bald den Ruf eines Alkoholikers. Er wurde zunehmend übellauniger und reizbarer und als Herrscher auch fauler, er hielt sich nur noch in Prag auf und vernachlässigte das Kaiserreich, litt unter Tobsuchtsanfällen, in denen er häufig »die Herrschaft über seinen Verstand verlor«. Einer seiner Hunde hatte – wie in Nachahmung seines Herrn – angeblich seine Frau, Johanna von Bayern, angefallen und getötet; nach anderen Berichten allerdings starb sie an der Pest und hinterließ einen Gatten, der zu bekümmert – vielleicht auch zu betrunken –
war, um an der Bestattung teilzunehmen. Offenbar nicht so abstoßend, wie er später hingestellt wurde, heiratete er eine zweite bayrische Prinzessin, der der Ruf großer Schönheit vorausging und die ihm angeblich sehr zugeneigt war. Die Kirche war dies weniger, denn er stellte Priester mitsamt ihren Konkubinen an den Pranger. Unter seiner Herrschaft fand das berüchtigte Pogrom von 1389 statt, als ein
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