Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
Vom Netzwerk:
Königs in unberechenbarer Folge. In einem Jahr, 1399, erlitt er sechs Attakken, jede schwerer als die vorhergehende, bis er in einer Ecke kauerte und glaubte, er sei aus Glas, oder durch die Korridore schlich und heulte wie ein Wolf. In den Intervallen geistiger Klarheit wollte Karl VI. die Ausübung des Königtums wieder übernehmen, auch wenn er sich im wesentlichen auf zeremonielle Anlässe beschränken mußte. In solchen Zeiten soll er auch die ehelichen Beziehungen zu Isabeau wieder aufgenommen haben, die zwischen 1395 und 1401 vier weitere Kinder gebar – was allerdings Karls Vaterschaft nicht beweist. [Ref 399]
    Leichtlebig und sinnlich, immer noch eine Fremde mit starkem deutschem Akzent, von der irren Aversion ihres Gatten gegen sie gedemütigt, überließ Isabeau Karl seinen Bediensteten und einem Mädchen, das sie selbst bestellt hatte, ihren Platz einzunehmen, die Tochter eines Pferdehändlers mit Namen Odette de Champdivers, die ihr ähnelte und in der Öffentlichkeit »die kleine Königin« genannt wurde. Die Königin selbst stürzte sich in hektische Vergnügungen und Ehebrüche, verbunden mit politischen Intrigen und einer leidenschaftlichen Jagd auf Geld. Da sie sich in Frankreich unsicher fühlte, konzentrierte sie sich darauf, ein persönliches Vermögen anzuhäufen und die Bereicherung und politischen Interessen ihrer bayrischen Familie zu fördern. Sie entwand Karl – ob in hellen Momenten oder nicht – Überschreibungen von Land, Einkünften, Residenzen und separaten Haushaltsgeldern auf ihren oder die Namen ihrer Kinder. Sie eignete sich Truhen voll von Schätzen und Juwelen an und speicherte sie in einer Reihe von Kellergewölben. Ihre Rolle am Hofe wurde immer extravaganter und
hektischer, die Ausschnitte der Kleider immer großzügiger, die Amouren immer skandalöser, die Feste wilder. Die Königin gründete einen Gerichtshof der Liebe, an dem beide Geschlechter die Rolle von Advokaten spielen konnten und wo sie, einem spöttischen Zeitgenossen zufolge, »in diesem lächerlichen Tribunal die albernsten Fragen« verhandelten.
    In den politischen Kämpfen ging Isabeau mit der Macht. Als Ludwig von Orléans zum Regenten ernannt wurde, schloß sie sich ihm gegen den Herzog von Burgund an und galt in aller Augen als seine Geliebte. Als er vom Sohn und Nachfolger Burgunds, Johann dem Furchtlosen, ermordet wurde, wechselte sie die Seiten und ging ins Lager und in das Bett von Ludwigs Mörder über. In dem Vakuum, das ein lebender, aber hilfloser König schuf, taumelte Frankreich dahin, und die Königin, die zur Bewältigung ihrer Rolle völlig unfähig war, wurde zum Werkzeug rücksichtsloser Kräfte – Burgunds und Englands –, die das Vakuum anzog. Hart bedrängt in Paris, geographisch und politisch vom Dauphin getrennt, unfähig, Unterstützung zu finden, ließ sie sich schließlich auf jenen schändlichen Vertrag ein, der den König von England zum Thronerben Frankreichs ernannte und ihren eigenen Sohn ausschaltete. Fett und verworfen überlebte sie schließlich ihren Gatten um fünfzehn Jahre und fand sehr viel später einen gar zu phantasievollen Biographen in dem Marquis de Sade. [Ref 400]
    Als der Chefminister des französischen Königs Heinrich IV., der Herzog de Sully, zweihundert Jahre später auf die Herrschaftszeit Karls VI. zurückblickte, charakterisierte er sie als »geschwängert von unheimlichen Geschehnissen . . . das Grab guter Gesetze und guter Moral in Frankreich«.

KAPITEL 25
Verpaßte Gelegenheit
    W ährend die Friedensverhandlungen in Leulinghen im Mai und Juni 1393 noch liefen, führte Coucy Gespräche mit Papst Klemens VII. in Avignon, wohin er gegangen war, nachdem er die Fehde in Savoyen beigelegt hatte. Seine Mission war der Beginn einer großen Unternehmung im Laufe der nächsten zwei Jahre, die darauf zielte, Klemens in Rom und die Franzosen in den päpstlichen Staaten zu etablieren. Beide Ziele hingen von der Bereitschaft Gian Galeazzo Viscontis ab, an dem Unternehmen mitzuarbeiten. Gian Galeazzos Interesse lag nicht so sehr in dem Kampf um den Heiligen Stuhl als in der Erweiterung der Macht Mailands. Obwohl er persönlich ein sehr gläubiger Mensch war, scheint er in der Frage der Päpste ziemlich gleichgültig gewesen zu sein. Sein Ziel war es, die Macht von Florenz und Bologna dadurch zu brechen, daß er Frankreich in Allianz mit Mailand nach Italien zog.
    Introvertiert, intelligent, reich und melancholisch, war Gian Galeazzo der Meister der Realpolitik in

Weitere Kostenlose Bücher