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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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nach der Schlacht von Poitiers befunden hatte. [Ref 397]
    In dem Anfall von 1393 war das Gemüt des Königs »von so schweren Schatten verdunkelt«, daß er nicht mehr wußte, wer er war: Er wußte nicht, daß er König war, verheiratet war und Kinder hatte, er wußte nicht, wie er hieß. Er entwickelte zwei unüberwindliche Aversionen: gegen die Lilien und seinen Namen oder seine Initialen in dem königlichen Wappen, das er in wilder Wut zu zerstören trachtete, wann immer er es sah, und gegen seine Frau, vor der er voller Schrecken floh. Wenn sie sich ihm näherte, schrie er auf: »Wer ist diese Frau, deren Anblick mich martert? Stellt fest, was sie will, und befreit mich von ihren Forderungen, wenn ihr es könnt, damit sie mich nicht mehr verfolgt.« Wenn er das Wappen von Bayern sah, machte er grobe Gebärden und tanzte davor herum. Er erkannte seine Kinder nicht, wohl aber seinen Bruder, seine Onkel, Räte und Diener und erinnerte sich an Namen längst Verstorbener. Nur die vernachlässigte Frau seines Bruders, die traurige Valentina, nach der er unablässig fragte und die er seine »liebe Schwester« nannte, konnte ihn beruhigen. Diese Vorliebe führte zu Gerüchten, die von burgundischer Seite am Leben gehalten wurden, daß Valentina ihn behext und vergiftet habe. Da man in Frankreich von den Verbrechen der Familie Valentinas, den Visconti, wußte, gewannen die Gerüchte einiges an Glaubwürdigkeit. Man flüsterte, sie suchte einen höheren Rang, und ihr berüchtigter Vater habe ihr befohlen, sich zur Königin von Frankreich zu machen.

    Der Wahnsinn in all seinen Formen war dem Mittelalter vertraut. Wilhelm von Hainault-Bayern, ein Neffe der Königin Philippa von England, »groß, jung, stark, dunkel und lebhaft«, war ein rasender Irrer gewesen, der dreißig Jahre lang in einer Burg eingeschlossen gehalten wurde, meistens mit gebundenen Händen und Füßen. Menschen, die unter geringfügigeren geistigen Störungen litten, wurden meist nicht eingeschlossen, sondern bewegten sich frei unter ihren Nachbarn, wie auch die Verkrüppelten, die Spastiker, die Skrofulösen und andere Außenseiter. Der Wahnsinn wurde im allgemeinen als heilbar angesehen und als natürliches Phänomen gewertet, das durch geistige oder emotionale Überbelastung ausgelöst wurde. Ruhe und Schlaf wurden verschrieben ebenso wie Aderlaß, Bäder, Salben, mineralische Heilsäfte – und Glück. Ebensohäufig führte man den Wahnsinn auf die Strafe Gottes oder auf Teufelswerk zurück, das durch Exorzismus bekämpft wurde oder dadurch, daß dem Opfer ein Kreuz in das Haupthaar rasiert wurde. Auch band man die Leidenden an den Lettner, damit ihr Zustand durch die Teilnahme an der Messe verbessert würde. [Ref 398]
    Die Besessenheit, mit der man Karls Krankheit auf Zauberei zurückführen wollte, spiegelt einen steigenden Glauben an das Okkulte und Dämonische wider. Zeiten der Angst nähren den Glauben an das Wirken böser Mächte, die man sich im 14. Jahrhundert als Menschen vorstellte, die Zugang zur Hilfe des Teufels hatten – daher das sich nun erhebende Gespenst der Hexe. Im Laufe des letzten Jahrzehnts des 14. Jahrhunderts war die Hexerei von der Inquisition offiziell gleichrangig neben die Ketzerei gestellt worden. Die Kirche war in der Defensive, durch das Schisma auseinandergerissen, von aggressiven abweichenden Bewegungen in der Lehre und in ihrer Autorität herausgefordert, von Forderungen nach Reformen bedrängt. Wie der kleine Mann fühlte auch sie sich von bösartigen Mächten umzingelt, deren Agenten Zauberer und Hexen waren. Bezeichnenderweise trat zu dieser Zeit, im Jahre 1398, ein feierliches Konklave der Theologen der Universität von Paris zusammen, das verkündete, die Schwarze Magie vergifte die Gesellschaft mit neuer Kraft.
    Auch der arme verrückte König selbst war ein Opfer dieses
Glaubens. »Im Namen Jesu Christi«, rief er aus und weinte in seiner Qual, »wenn einer von euch ein Komplize dieses Bösen, unter dem ich leide, ist, so bitte ich ihn, mich nicht länger zu foltern, sondern mich sterben zu lassen.« Nach diesem Ausbruch des Jammers gab die Regierung in der Hoffnung, den Zorn des Himmels beschwichtigen zu können, einen Erlaß heraus, in dem Gotteslästerern schwere Strafen angedroht wurden sowie zum Tode Verurteilten gestattet wurde, noch einmal zu beichten. Überdies wurde die Porte de l’Enfer (Tor der Hölle) in Porte Saint Michel umbenannt.
    In späteren Jahren kamen und gingen die Anfälle des

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