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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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Tod fünfzehntausend Einwohner hatte, zählte in der Mitte des 15. Jahrhunderts nur noch sechstausend. Die Domherren von Schleswig, die ihre Einkünfte von 1457 mit denen aus dem Jahre 1352 verglichen, stellten fest, daß Pacht und die Abgaben an Gerste, Roggen und Weizen nur noch ein Drittel des Vergleichsjahres ausmachten. An vielen Orten waren die Grundschulen aufgegeben worden und sollten erst in der Neuzeit wiederaufgebaut werden. 1439 berichtete der Bürger von Paris, der in jenen Jahren ein Tagebuch führte, daß Gras auf den Straßen der Hauptstadt wuchs und Wölfe die Menschen in den halbleeren Vororten anfielen. Im gleichen Jahr klagte der Erzbischof von Bordeaux, daß die Plage der écorcheurs , der Wegelagerer, die Studenten hindere, zu den Universitäten zu kommen, denn »viele sind auf dem Wege dorthin überfallen, ihrer Bücher und ihres Besitzes beraubt und manchmal, ach!, erschlagen worden«. Der Preis, den hundert Jahre Krieg an Hilfszahlungen und Steuern und entwerteter Währung gefordert hatten, war unschätzbar. Aber die erzwungenen Sitzungen der Stände und Parlamente, die Finanzierung und Hilfe für den Krieg bewilligen mußten, mögen auch die Funktion repräsentativer Körperschaften gestärkt haben.
    Nur wenige Menschen vermochten im ersten Jahrzehnt unter Karl VII. Zeichen des Fortschritts zu erkennen. Aufgrund der fortwährenden Kriege, schrieb Thomas Basin, ein normannischer
Chronist, aufgrund der »Nachlässigkeit und Untätigkeit« der königlichen Beamten, der »Gier und Disziplinlosigkeit« der Reisigen und des Fehlens eines wirksamen militärischen Kommandos herrsche Verheerung von Rouen bis Paris, von der Loire bis an die Seine, auf den Ebenen von Brie und der Champagne und bis nach Laon, Amiens und Abbeville. »Und man fürchtete, daß die Narben dieser Verheerung lange sichtbar bleiben und andauern würden, wenn nicht die göttliche Vorsehung die Dinge dieser Welt besser behütete«. Langsam und gegen alle Erwartung machte die Verantwortung der Herrschaft einen König aus Karl VII., und sein wachsendes Geschick brachte bessere Männer in seine Dienste. Der große bürgerliche Finanzier Jacques Coeur stellte ihm Geld und Kredit zur Verfügung, und die von fähigen Kanonieren vervollkommnete Belagerungsartillerie brach mit einer dem 14. Jahrhundert noch unbekannten Effizienz die Macht der Engländer über Burgen und Städte. Eine Stadt nach der anderen öffnete den Truppen des Königs die Tore, dies um so bereitwilliger, als Karl VII. endlich die fundamentale Reform des Militärs durchsetzte, an der sein Großvater Karl V. gescheitert war. 1444/45 gelang es ihm, eine stehende Armee aufzustellen, in die er die gesetzlosen Kompanien einfügte – und auf die Weise diese größte Geißel seiner Zeit beseitigte. Unter dem neuen Gesetz entstanden zwanzig compagnies d’ordonnance von je hundert Lanzen mit zwei Bogenschützen, einem Knappen, einem Pagen und einem valet de guerre pro Lanzenträger, was eine Kompanie auf sechshundert Mann brachte. Offiziere waren die verläßlichsten Söldnerhauptleute, die ihre eigenen Leute in die Armee einbrachten. Die neuen Kompanien wurden von der Krone bezahlt und unterhalten und an strategischen Punkten des Reiches einquartiert, die restlichen écorcheur -Banden mit Gewalt aufgelöst. Unter den Zeichen der Veränderung war keines bedeutsamer als diese Neuerung einer stehenden Armee. Sie führte ein Ordnungsprinzip ein, wo alles Vorhergehende – Seuche, Krieg und Schisma – Element der Unordnung gewesen war.
    Die Erholung Frankreichs wurde beschleunigt durch Englands schwindende Lust an der Eroberung. Heinrich VI., nun erwachsen, wünschte Frieden. Ein schwacher, unsicherer König, war er eine
Schachfigur in den Kabalen unter den Baronen und Prälaten seines Reichs. Sein befähigter Onkel, der Herzog von Bedford, war tot, und nach ihm kam niemand von vergleichbarem Format, der in der Lage gewesen wäre, den Krieg fortzuführen oder zu beenden. Bis 1450 hatten die Franzosen die ganze Normandie zurückerobert; die Städte kapitulierten, sobald der Artillerietroß erschien. Selbst das englische Aquitanien war auf wenig mehr als die Umgebung von Bordeaux zusammengeschrumpft.
    1453 wurde bei Castillon, dem einzig verbliebenen englischen Stützpunkt außer Bordeaux, die letzte Schlacht geschlagen. Die traditionellen Rollen waren verkehrt: tollkühner Kampfesmut auf englischer und bürgerliche Kompetenz auf französischer Seite. Als Castillon sich den

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