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Der ferne Spiegel

Der ferne Spiegel

Titel: Der ferne Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Tuchman
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geschwärzten Ruinen, die Felder waren unbestellt, und unbenutzte Straßen wucherten zu. Bauern flohen das Land, um Zuflucht in den Städten zu finden, wo sie Sicherheit und ein besseres Leben zu finden hofften. Unter den dichtgedrängten Massen aber und den Unterernährten forderten die Epidemien einen größeren Zoll. Der zurückgehende Handel schuf Arbeitslosigkeit, die wiederum Feindseligkeit gegen die Neuankömmlinge weckte. Einige kehrten auf das Land zurück und versuchten, ihre Dörfer wiederaufzubauen und die versteppten Felder wieder zu kultivieren, einige lebten in den Wäldern von Fallenstellerei und dem Fischfang. [Ref 440]
    Jetzt, im 15. Jahrhundert, erreichte der Todeskult seine höchste Blüte. Die Künstler wandten sich der Verwesung mit grauenerregender Detailgenauigkeit zu: Würmer zuckten in jeder Leiche, aufgeblähte Kröten saßen auf toten Augäpfeln. Ein winkender, spottender, grinsender Tod führte den Danse Macabre über unzählige Wandfresken. Eine Literatur des Sterbens drückte sich in den populären Abhandlungen über die Ars moriendi aus, die Kunst des Sterbens, mit Szenen vom Sterbebett, Ärzte und Notare davor, der zusammengeduckten Familie, schwarzen Tüchern und Särgen, Totengräbern,
deren Spaten die Knochen älterer Toter aufwarfen, schließlich mit dem nackten Leichnam in Erwartung des Richterspruchs Gottes, während Engel und bösartige schwarze Teufel um die Seele streiten.
    Mit dem Todeskult verband sich die Erwartung des Endes der Welt. Der Pessimismus des 14. Jahrhunderts wuchs sich im 15. Jahrhundert zu dem Glauben aus, daß der Mensch schlechter würde, ein Hinweis auf das kommende Ende. Wie es in einer französischen Abhandlung beschrieben wurde, war ein Zeichen des Verfalls die Verhärtung der Barmherzigkeit in den Herzen der Menschen; die menschliche Seele alterte, und die Flamme der Liebe, die die Menschheit gewärmt hatte, war niedergebrannt und würde bald verlöschen. Seuchen, Gewalttätigkeiten und Naturkatastrophen waren weitere Zeichen. [Ref 441]
    Seit die Engländer ihre Hauptstadt besetzt hielten, war der Mut der Franzosen auf einen Tiefpunkt gesunken. Es gab nicht wenige, die bereit waren, die Vereinigung beider Länder unter einer Krone als einzige Lösung des unaufhörlichen Krieges und des ökonomischen Ruins zu akzeptieren. Bei den meisten aber dominierte der Widerstandswille gegen die englischen Tyrannen und Goddams , wie sie genannt wurden, aber er war urkoordiniert und führungslos. Der Dauphin war schwach und ohne Initiative, ein Gefangener passiver oder skrupelloser Minister. Der Mut kam plötzlich und aus der unwahrscheinlichsten Ecke der Gesellschaft – von einer Frau aus der Klasse der Gemeinen.
    Das Phänomen der Jeanne d’Arc – die Stimmen von Gott, die ihr sagten, sie müsse die Engländer vertreiben und den Dauphin zum König krönen lassen, die Kraft in ihr, die jene mitriß, die das Mädchen normalerweise verachtet hätten, die Entschlossenheit, die die Belagerung von Orléans aufbrach und den Dauphin nach Reims trug – entzieht sich jeder Kategorie. Vielleicht kann es nur als Antwort auf eine historische Notwendigkeit verstanden werden. Der Moment forderte sie, und sie erhob sich. Ihre Kraft zog sie aus der Tatsache, daß sich in ihr zum erstenmal in der Geschichte der alte Glaube und der neue Patriotismus verbanden. Gott sprach zu ihr mit den Stimmen der heiligen Katharina, des heiligen Michael und der heiligen Margarete, aber was Er ihr befahl, war weder Keuschheit
noch Demut noch ein Leben im Geiste, sondern politisches Handeln, um ihr Land von den fremden Tyrannen zu befreien.
    Der kometengleiche Höhenflug dauerte nur drei Jahre. Sie erschien 1428, brachte Dunois, einen Bastard Ludwigs von Orléans, und andere aus dem Kreis um den Dauphin dazu, in Orléans anzugreifen, befreite die Stadt 1429 und führte Karl auf der Welle dieses Sieges zu der heiligen Krönungszeremonie in Reims. Von den Burgundern im Mai 1430 bei Compiègne gefangengenommen, wurde sie den Engländern verkauft, als Ketzerin von der Kirche im Dienst der Engländer verurteilt und 1431 in Rouen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ihre kirchliche Verurteilung war den Engländern sehr wichtig, denn sie beanspruchte, von Gott aufgerufen zu sein, und wenn ihr Anspruch nicht widerlegt wurde, hieß dies, daß Gott, der Schiedsrichter in den Affären der Menschen, sich gegen die Herrschaft der Engländer in Frankreich gestellt hatte. Vor ihrem Prozeß machten weder Karl

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