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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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nicht sein sollte und einen stummen Vorgang durch seine Anwesenheit unterbrach. Er ging zurück in den Flur. Aus dem Wandspiegel betrachtete ihn ein junger Mann. Julian hob seine Hand, der junge Mann tat das gleiche, und aus irgendeinem Grund beruhigte ihn das.
    Die Luft im Schlafzimmer war abgestanden, auf dem Nachttisch lag Staub, sehr deutlich zu sehenim schräg einfallenden Licht. Über dem Bett hing ein Bücherbord, darauf in zwanzig dicken Bänden, ledergebunden und abstoßend wuchtig, die Opera Completa Veterings, gesammelt und herausgegeben von der holländischen Akademie der Wissenschaften 1850 bis 1874, mit ihren unangenehm kleinen Buchstaben, zu vielem Latein, all den mathematischen Symbolen, Unmengen von Briefen und entlegenen Abhandlungen, die er hätte kennen sollen und nicht kannte. Gegenüber, unter dem langen Riß in der Zimmerdecke, hing eine alte Seekarte, die er vor Jahren in einem Antiquariat gekauft hatte: schwarze Tinte auf weißem Grund, die Küstenlinie eines Kontinents, nautische Daten in einer Notation, die er nicht verstand, und ein sehr fein gezeichneter Schlangenkopf, der mit spitzen Ohren aus dem Wasser lugte.
    Er nahm den letzten der Vetering-Bände und schlug ihn auf. In diesem Moment erwählt die Seele sich aus dem Chaos ihrer Erinnerungen einen Gefährten, von welchem sie bis zur Schwelle – allerdings nicht darüber hinaus – begleitet zu werden vermeint. Wie mir offenbar wurde (ich bitte Sie, nicht zu fragen, wie) ist es diese Entscheidung, die, so nebensächlich sie auch erscheinen mag, in Wirklichkeit doch … Julian schloß das Buch und schüttelte halb belustigt den Kopf. Der arme, verrückte Alte – wieviel Zeit hatte er an ihn verschwendet! Er öffnete die Schublade des Nachttischs: Taschentücher, Schlaftabletten, ein Stoß Briefe von Clara. Er nahm ihn und wog ihn in der Hand. Am liebsten hätte er ihn mitgenommen. Doch dann legte er ihn zurück und schloß die Schublade.
    Im Flur erschrak er von neuem über den Mann im Spiegel. Ein Fremder, deutlich jünger als er, der mit ruhiger Neugier seinen Blick erwiderte. Julian hob langsam die Hände, für eine endlose Sekunde schien es, als ob der andere die Bewegung nicht mitmachen würde … Dann tat er es doch. Julian beugte sich vor, betrachtete seine Augen – blau und konzentriert, von den Brillengläsern unmerklich verkleinert –, bis seine Stirn das Glas berührte. Und plötzlich hatte er das Gefühl, daß sie die Plätze getauscht hatten, daß er das Abbild des anderen und nicht dieser seines war, in einer geometrisch umgefalteten Welt, seinem Flur dort drüben täuschend nachgebildet. Der andere trat einen Schritt zurück, wandte sich ab und ging langsam zur Tür; Julian sah ihm nach, das Glas beschlug von seinem Atem. Er sah ihn die Tür öffnen undhinausgehen, und dann war er allein und starrte dorthin und begriff nur allmählich, daß er selbst es gewesen sein mußte, der gegangen war, er selbst. Er rieb sich die Augen, trat zurück und lehnte sich an die Wand. Er vermied es, in den leeren Spiegel zu sehen. Er atmete schwer.
    Er horchte. Und plötzlich, als hätte seine Aufmerksamkeit sie angezogen, näherten sich Schritte. Kamen die Treppe herauf, wurden lauter, noch lauter, stockten.
    Er wartete darauf, daß sie sich entfernen würden, weiter aufwärts, aber es war nichts mehr zu hören. Einen Moment versuchte er noch mit aller Kraft zu glauben, daß das etwas anderes bedeutete als das, was es bedeuten mußte, daß er sich geirrt hatte. Dann hörte er schon den Schlüssel. Metall, das auf Metall kratzte und nicht hinein konnte, weil der andere Schlüssel von innen steckte. Die Klinke bewegte sich, und mit einem Ruck sprang die Tür auf.
    Sie sahen einander an. Julian war schwindlig. Und so brauchte er eine Weile, bis er dieses Gesicht mit dem zurückweichenden Haaransatz, den breiten Lippen und den kleinen, scharfen Augen wiedererkannte; ihm war, als stünde ein Fremder vor ihm.
    »Das …« Er räusperte sich. »Das überrascht dich jetzt, nicht wahr?«
    »Ach«, sagte Paul, »sicher weniger, als du glaubst.«

IV
    Wenn er später, in den Nächten ohne Schlaf, an diesen Nachmittag zurückdachte, war er nicht mehr sicher, ob es wirklich geregnet hatte, oder ob das feuchte Grau über Himmel, Erde und Luft nur ein nachträglicher Zusatz seiner Phantasie war. Aber er sah noch deutlich vor sich, wie sie ihren Mantel anzog und zweimal den rechten Ärmel verfehlte, wie er nach ihrem Kragen griff und ihr half. Und

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