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Der fernste Ort

Titel: Der fernste Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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hörte immer noch die Worte, mit denen sie ihm sagte, was er natürlich schon vermutete, was seinem Schrecken nichts hinzufügte als die blasse Färbung der Gewißheit.
    Dann gingen sie die Straße hinauf und hinunter, immer wieder hinauf und hinunter, bis er das Gefühl hatte, die zwölf schwarzen und drei grünen Mülltonnen, den weggeworfenen Gummireifen, die vier parkenden Autos und das Häufchen Hundedreck am Rand des Bürgersteigs besser zu kennen als irgend etwas auf der Welt. Sie schob ihre Hand unter seinen Ellenbogen; er sagte nichts, aber sie spürte doch, daß das nicht passend war,und zog sie wortlos wieder zurück. Und immer wieder starrte er auf das offene Schuhband hinunter; es jetzt zuzubinden war einfach nicht mehr möglich. Die Gelegenheit war vorbei, so etwas konnte man nicht nachholen.
    Auch an ihr Gespräch erinnerte er sich nur mehr ungefähr, viel vager als an die zwölf schwarzen und drei grünen Tonnen, den Reifen und die Autos. Sie hatte auf seinen halbherzigen Einspruch mit einem Entsetzen reagiert, das ihn zwang, zu versichern, sie hätte ihn falsch verstanden, völlig falsch! Dann sprach sie eine Weile sehr schnell und konzentriert, als hätte sie es sich vorher zurechtgelegt. Es sei gewiß keine Katastrophe. Sie würde das Studium unterbrechen, er würde die Stellung annehmen. Man hatte ihm doch eine Stellung …? Ja, antwortete er leise, räusperte sich, wiederholte: Ja, das hatte man. Der Regen strich als feuchtes Prickeln über sein Gesicht, einmal wäre er fast in den Hundedreck getreten, und eine Pfütze, das fiel ihm auf, hatte die Form eines menschlichen Kopfes mit großer Nase und einem sehr langen Kinn. Dann hörte er ihr wieder zu und fragte sich ungläubig, ob all die Dinge, von denen sie sprach, all diese Begriffe aus dem Leben erwachsenerMenschen, jetzt wirklich eine Bedeutung für ihn hatten.
    »Sieh mal«, sagte sie, »die Pfütze sieht aus wie ein Kopf.«
    Er sah ihr Gesicht, die Falten, die plötzlich darin erschienen waren, das Zittern um ihre Mundwinkel, und er war nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Schließlich brachte er sie an das Gartentor, verabschiedete sich, sagte das, was zu sagen war, versprach, heute noch anzurufen, jawohl, heute noch, heute, und ging durch den Regen – falls es wirklich regnete – nach Hause zurück.
    »Ich muß mit dir sprechen«, sagte seine Mutter.
    »Jetzt nicht!« Sie wollte etwas erwidern, aber er legte ihr die Hand auf die Schulter und schob sie sanft zur Seite; das hatte er noch nie getan, doch seine neue Situation schien es zu erlauben. In der Nacht schlief er nicht. Er saß auf dem Bettrand und betrachtete die von der Lampe auf die Wand gezeichnete Schattenlinie. Er griff zum Telefon, wählte eine Nummer und legte auf, bevor Paul sich gemeldet hatte. Nebenan hörte er seine Mutter mit Gegenständen hantieren und leise reden wie zu jemand Unsichtbarem oder zu sich selbst, dann, kurz nach Mitternacht, mußte sie eingeschlafensein. Er trat ans Fenster, der Himmel war dunkel und hoch, er konnte keine Sterne sehen, der Wind faßte nach seinen Haaren. Plötzlich hatte er den Wunsch, hinauszugehen. Und dann einfach immer weiter, geradeaus.
    Er setzte sich, blätterte in Spinozas Ethik , fand nichts, das ihm gefiel oder half. Er nahm Veterings Oekonomie: Tabellen, Symbole, noch mehr Tabellen, dann die Ausgewählten Briefe , schlug sie auf, wieder zu, wieder auf. Wie war das noch? Es ist mir allerdings zur Gewißheit geworden, daß menschliches Fährnis sich analysieren läßt wie der Fortgang einer minder originellen Funktion: finde ihre merkwürdigen Punkte, lege ein Diagramm an, und dann wundere dich nicht, wenn die Muster, welche du auffindest … Er blätterte weiter, mit dem unangenehmen Gefühl, daß sich jemand über ihn lustig machte. Und hier der dritte Brief an Arnauld, in Kronensäulers holpriger Übersetzung: Es hat mir wohlgetan, von Ihnen zu lesen. Ihre Ansichten sind immer interessant, so auch Ihre Meinung über das, was Sie ›jene Stunde‹ nennen. Darf ich gestehen, daß ich mir den entscheidenden Augenblick manchmal als die Entdeckung ausmale, daß die Welt, die einen Menschen fest zu umgeben scheint, bereits seit einerWeile die Emanation seines Bewußtseins ist, daß er sein Sterben gewissermaßen – versäumt hat? Der Hades, mein Lieber, beginnt hinter der nächsten Straßenecke. Nicht die trübe Parabel von dem Maler, der in seinem Bild verschwindet, im Gegenteil: Ein Wanderer, der langsam und ohne

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